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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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haben die Nackten nur in der Verdammnis überhaupt Sexualität. Kaum erleben sie ihre Auferstehung oder werden im Himmel empfangen, tragen sie ihren nackten Körper nur noch wie ein Accessoire. Erst in der Verdammnis wird das Antlitz zur Visage, verwandelt sich das Gesäß in den Arsch. Welche Offerte, jetzt, unmittelbar vor dem so schwärmerisch wie versessen imaginierten Rendezvous, von der Sexualität Abschied zu nehmen! Doch was das Motiv meiner Reise anging, so war ich auf der Seite der Verdammten, erregt von der Schlachtplatte der unterworfenen Leiber.
    Am frühen Nachmittag trieb ich mich immer noch in der Kirche herum, setzte mich zwischendurch immer wieder zum Aufwärmen auf die sonnigen Stufen vor dem Portal, suchte dann den Platz, die Treppe, die Eingänge zu den Gassen nach einem Blick ab, der mich vielleicht aus einer Nische musterte. Dann aber trat ich wieder vor das Weltgericht, wo die Brandung der Verdammten nicht abebben wollte, während eine monumentale Miniatur, ein einzelnes Paar, sich immer entschiedener aufdrängte.
    Es war dieses Paar über der Mittelachse des Getümmels: Sie liegt nackt, mit dahinwehendem blonden Haar auf dem Rücken eines fliegenden Satans. Ihr ängstlicher Blick sucht zur Rechten die Augen des Himmelsengels in seiner Rüstung, während der luziferisch geflügelte Teufel, der sie durch die Lüfte trägt, ungehindert, gehörnt und lachend dem Höllenschlund entgegenfliegt. Eingefroren in der Bewegung über der wogenden Masse aber, ohne Woher und Wohin, hätte das Paar in diesem Augenblick noch alles sein können: sogar die Monade des ungleichen Liebespaars, das sich rettet und entkommt.
    Doch es gab kein Entkommen.
    Bernadette erschien an diesem Mittag nicht, sie tauchte auch nachmittags nicht auf und auch nicht, als abends das Kirchenportal geschlossen wurde. Sie kam gar nicht, und fehlend war sie doch auf passende Weise präsent. Ich nahm es zu gleichen Teilen enttäuscht und erleichtert hin, kehrte bei Einbruch der Dunkelheit nach Rom und von dort am nächsten Morgen nach Hause zurück. Hier empfing mich keine Nachricht, und den dicken Brief im wattierten Umschlag, der zwei Wochen später eintraf, öffnete ich tagelang nicht – aus Trotz, aber auch, weil ich dieser Korrespondenz vor dem »Jüngsten Gericht« in Orvieto überdrüssig geworden war, so dass ich mich entschied, mich ihrer ein für alle Male zu enthalten.
    Als ich den Umschlag in einer schwachen Stunde dann doch öffnete, fielen mir daraus entgegen: das Foto eines Mädchens mit Ball; eine leere Packung Lucky Strike; ein Silberpapier; das Bild eines schlafenden Kindes unter einem Wecker; die Zeichnung eines Ritters unter einem Baum und die eines gejagten Rehs; zwei Pflaster; die Zeichnung einer schreienden Frau mit Blume mitten in einer Wiese, auf der jede einzelne Blume schreit; das Etikett der »Kalamata Crown Figs shipped by Jenny«; die Fotokopie der Aufschrift auf einem Radiergummi; die Ansichtskarte des Weltpostvereins; ein Stück Fell; die Zeichnung einer Straßenkreuzung mit Bahnübergang; Bilder von Paketpackern und Flamingos; das kolorierte Foto erschöpfter Fischer in einem Boot; Dante, gemalt von Signorelli; das Foto einer Sommergesellschaft am Pool über dem Ozean; die Schlagzeile »Ex-altar boy steals $  15 from plates«; ein von Kindergekrakel bedecktes Exemplar der »Story of Little Black Sambo«, illustriert; ein weißer Umschlag beschriftet mit »Bernadette«, darin ein weißes leeres durchscheinendes Blatt Papier; Seiten aus einem alten Buch zur Hundedressur; eine Liste mit Fremdwörtern samt Übersetzungen: epigone: descendant; plethora: too full; provenance: forsight; taciturn: silent; élan: vigor; exhume: dig up; zeitgeist: ghost of time; obfuscating: to make obscure; nemesis: goddess of vengeance. Des Weiteren eine Fahne mit Totenkopf; eine alte Karte, beschriftet »Volkstracht von Schapbach«; chinesische Kalenderblätter; Jahrhundertwende-Fotos von Kindern im Sand; die Zeichnung einer nackten Frau, die sich einem angezogenen Mann entgegenräkelt, auf der Rückseite eine kleine Frau, auf einem riesigen Mann reitend; der Entwurf eines Logos für »National Pornographic«; ein Foto des Saturn; ein Bongo spielendes Skelett; das Foto einer Boing 737 – 200 ; die Zeichnung eines Mannes, der eine Nackte wie zur Kreuzabnahme in seinen Armen trägt; Mann und Frau vor einem großen Herzen; eine Frau, schreiend zwischen Möbeln; ein rudernder Schatten unter lächelnden Gestirnen, gezeichnet,

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