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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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passen, sich aber dennoch versprochen sind, und drücken uns sekundeninnig an die Brust. Sie hat einen starken Griff, verharrt, schiebt mich dann mit beiden Armen von sich weg, synchron sagen wir »Gracias«, und synchron lachen wir darüber.
    Als ich später meine Tasche nach meinem Stift durchsuche, fehlt er nicht etwa, vielmehr ist außer ihm noch ein zweiter, neuer da, ein kleiner schwarzmetalliger Kugelschreiber. Mit ihm notiere ich dies hier.
    Aisén heißt die Provinz, in die ich aufbreche, die südlichste von Chile. Ihr Name wird auf Darwin zurückgeführt, »Ice ends« soll er gesagt und den Umstehenden diesen Ausspruch zur Verballhornung überlassen haben. Ich steige die Gangway hinunter auf dem kleinen Flugplatz von Coyhaique, steige direkt in den Wind, und dieser Wind hat alle Farben: Er ist satt oder fahl, er tuscht oder streicht mit dem Quast, er atmet, er treibt, er bläst, er schlägt zu, er hechelt um die Ecken, er ist eine Dimension und wahrhaft der Atem der Natur. Die Blumen fällt er im Beet.
    Lili steht in diesem Wind in bunten, selbst genähten und selbst gefilzten Kleidern. Sie verliert keine Zeit. Ihre kleinen Gesten hüpfen über die Berge, während die großen Augen die Landschaft inventarisieren. Dies ist das alte Reich der Tehuelche, der hiesigen Ureinwohner, die das Schicksal der Indianer Nordamerikas teilen. Von den Kolonisatoren bekämpft und nahezu ausgerottet, in Reservate gepackt und dem Alkoholismus ausgeliefert, existieren sie weiter als allenfalls folkloristische Größe. Auf den Steinen hinterließen sie Handabdrücke in Rot oder Blau. Mal haben sie mit den Handtellern gedruckt, mal die Handfläche als Schablone eingesetzt und einen Umriss hinterlassen. So markierten sie Orte, an denen sie sehen konnten, was auf sie zukäme. Uns Nachgeborenen fehlt ihr Blick. Die Nacht bricht ein, der Schlaf kommt früh.
    Ein Tehuelche-Püppchen hat es auch auf das Kaminsims unseres Gästehauses geschafft. Erst sterben die Völker aus, dann erleben sie ihre Auferstehung als Andenken. Zwei geschnitzte Erpel, zwei ausgesägte Fische mit hängenden Mundwinkeln, die über das lackierte Brettchen schwimmen, darunter eine Kollektion miniaturisierter Spirituosenflaschen, eine Kaffeemühlensammlung, zwei holzgeschnitzte Kähne mit mineralischen Drusen darin, ein ausgestopfter Hahn, ein Widderhorn, das ist der übrige Schmuck der flackernden Feuerstelle, über der der morgendliche Mate-Tee angesetzt wird. Noch hüllen Nacht und Wind das Haus ein, aber als Lili in Gummistiefeln von draußen kommt, fällt auch schon etwas Frühlicht durch die Tür, und in das Heulen des Windes klappert der Deckel der auf dem Herd kochenden Emaillekanne.
    Wir werden durch den Ort streifen, eine kleine, wesenlose Ansiedlung mit nützlichen Häusern, Versorgungsstationen, einer Hauptgeschäftsstraße und ein paar Denkmälern, alle um Jahrhunderte jünger als das, woran sie erinnern. Es gibt Siedlungen, die aus sich selbst leben, und es gibt solche, die man nur aus dem Land versteht, das sie umgibt. Coyhaique gehört zu den Letzteren.
    Mittags gehen wir ins »Casino de Bomberos«, die Feuerwehrkantine, denn hier, so heißt es, kochen sie das beste Essen am Ort. Es gibt einen Dielenboden, Holzvertäfelung, darauf Kupferreliefs und Landschaftsmalerei über grün-weißen Tischdecken. Alle, die diesen Gastraum betreten, scheinen gerade aus der Wildnis zu kommen oder sich anzuschicken, wieder in ihr zu verschwinden. Die Heimkehrer begrüßen einander, gehen von Tisch zu Tisch, geben die Wasserstände der Flüsse, die Witterungsverhältnisse in anderen Regionen Patagoniens durch, bringen die Straßen-Zustandsberichte auf den neuesten Stand und haben auch Neuigkeiten: Zwei Tote sind zu beklagen, einer ertrunken, weil er mit zu schwerer Kleidung in einen Strudel geriet, der andere vom Felsen gestürzt. Man isst hässliche Fische mit modrigem Aroma, Avocado dazu, und zum Nachtisch »conserva«, den Dosenpfirsich.
    Wir sitzen zu dritt. Lili hat Manuel mitgebracht, einen kaum dreißigjährigen Vater von fünf Kindern, in dessen Gesicht dauernd etwas passiert. Als unser Fahrer spricht er zunächst vom Zustand des Wagens und der Strecke, von 1500 Kilometern, die wir vor uns haben, werden 1400 über Schotterstraßen führen – so spricht sein Berufs-Ich. Eigentlich aber ist er ein Schwärmer, der von der Liebe, der Unversehrtheit der Landschaft, der Humanität träumt, seine Neugier wie seine Intelligenz für sie in die Waagschale

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