Die Enden der Welt
gibt heute ein anderes Chile.«
»Und ist dein Sohn Teil dieses anderen Chile?«
»Er wird Kriminalbeamter. Das war zuerst furchtbar für mich, aber er soll tun, was ihn glücklich macht. Er hat mir die Augen geöffnet für den Wandel. Ja, heute sehe ich ihn als Teil des Anfangs. Wenn man schon Polizei braucht, dann lieber mit Menschen wie ihm.«
Lili lebt auf einer Farm. Sie nennt es Farm. Als wir aber anderntags dort halten, ist es ein Lehmhaus mit Blechdach, dreißig Quadratmeter groß, ohne Strom. Der Kühlschrank ist ein kleiner Holzverschlag, durch den der frische Wind geht. Sie und ihr Mann sind Selbstversorger, sie schlachten, kochen Marmelade, stellen Filzprodukte her und kaufen nur Dinge, die sie partout nicht selbst fertigen oder tauschen können. Manchmal sind sie lange unterwegs für ein paar Flaschen Bier oder für ein paar abgelegte Bücher aus einer Pension. Das Bier zumindest wollen sie künftig auch selbst brauen.
Lili hat ein schönes, mit schwarzen Wimpern, Brauen, Haaren graphisch gezeichnetes Gesicht, in dem ein verschmitzter Ausdruck jetzt wieder der Sorge weicht, einer profunden Sorge, die mal die Landschaft, die Natur, die Wegstrecke, das Wetter, die Nahrung, mal schlicht das ganze Leben meint.
Wir brechen am Morgen auf, um von Chaitén in die Tiefe jener Einöden vorzudringen, deren Weiten der viel bereisten Südspitze des Kontinents vorgelagert sind – ungesehene Landstriche im Schatten der massenmagnetisch wirksamen Spitze des Kontinents. Wir verlassen die festen Straßen rasch, und ich lerne die Landschaften lesen.
Dünn ist die Erdkrume, der Boden darunter spröde vulkanisch. Die pyramidal aufragenden Gipfel, Felsnadeln, schroffen Tafelberge, eleganten Hügel, geronnenen Quader und isolierten Kegel folgen aufeinander wie rhythmisiert, in jener Dynamik einer Landschaft, die alles in Druck und Bewegung, Kompression, Effet, Schwung und Fluss überträgt. Den Sound komponiert das Wetter: Eben hat die Bergkette Castillo ihre erhabenen Spitzen unter Wolken verschleiert, wie um die Würde ihrer Anonymität zu schützen.
Hölzerne Behelfsbrücken schwanken über Wasserläufen, und wo immer sich Pappeln finden, verbirgt sich dahinter eine Siedlung, werden doch Pappeln hier vor allem als Windschutz angebaut. In ihrem Schatten trotzen Hüttchen und Blechbaracken dem großen Atem, eingeschüchtert vom Land, als wollten sie nicht stören. Vor dem weiten Horizont streckt sich die sich selbst überlassene Natur in eine Ferne, die nur fern sein will, gereihte Silhouetten, für den Distanzblick gemacht. Alles flieht, die Landschaften dehnen sich, um auf immer neue Weise hintergründig zu werden. Der Mensch aber, klein gemacht vom Überfluss der Natur, verliert sich im Panorama des Seltenen, der unausgebeuteten Natur und einer Landschaft, die sich im Himmel fortsetzen will.
Manchmal stehen am Wegrand kleine Altäre mit Wasserflaschen, mitten in der Einöde.
»Das«, sagt Lili sentimental, »sind die Gaben für Difunta Correa: Sie lief im Krieg durch die Pampa von Argentinien nach Chile, um ihr Neugeborenes dem Ehemann zu zeigen. Das Kind überlebte an ihrer Brust, die Mutter aber verdurstete unterwegs.«
Deshalb gedenkt man ihrer in einem ganz weltlichen Kult und häuft an Kapellen und Wegkurven Flaschen, damit ihr Geist nicht verdurste.
Ja, es ist immer noch das Land dieser Geschichten und dieser Helden: Sie kommen über die Berge und durch die Flüsse, die Gauchos mit ihren Halstüchern, Baskenmützen und Stoffschuhen, in Pluderhosen und mit roten Hüftbändern, mit Messern am Gürtel, des dauernden Schlachtens wegen oder weil sie die Hufe säubern müssen. Selbst eine Motorsäge führt mancher moderne Gaucho mit sich. Früher waren sie Wochen zum Viehmarkt unterwegs. Heute reiten sie zumindest einen Tag lang zum nächsten Lädchen. Von Einsamkeit sind sie immer umgeben, denn was sie auch machen, sie machen es allein.
Man weiß nicht genau, wie die Landschaft so weit weg von allen Schotterstraßen sein könnte, die Landschaft ihres Zuhauses jenseits der Berge. Die Charaktere, die diese Einsamkeit schultern können, ohne Ablenkung, ohne Bücher und Filme, sind ungesellig und dem eigenen Kopf ausgeliefert. Manchmal kommen sie über die Hügel an der Seite ihrer Frau, kleinwüchsig wie sie selbst, und dann schreiten sie dahin in einem Schwarm aus Kindern und Hunden.
Wir sind Stunden gefahren, als wir zum ersten Mal wieder auf einen Einkaufsladen stoßen, ein düsterer Schuppen mit Regalen
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