Die Enden der Welt
wirft.
Später werde ich von der großen Liebesgeschichte hören, aus der seine Ehe wurde, werde erfahren, wie sie einander fremd wurden. Manuel verliebte sich in eine Bergführerin. Doch von einem Lehrgang in den USA , wo sich Ranger aus mehreren Ländern getroffen hatten, kehrte sie nicht zurück. Ihre Leiche wurde an einem Fluss angespült, und niemand konnte oder wollte genau sagen, was ihr zugestoßen war.
Unterdessen aber hatte sich auch Manuels Ehefrau in einen der hiesigen Wildhüter verliebt. Doch ehe sich die Geschichte entfalten konnte, ertrank dieser auf einer seiner Touren in einem Fluss. Er hatte die Strömung unterschätzt. Nun also sitzen die Eheleute wieder aufeinander, sehen sich in die Augen und finden dort die Rückstände einer Geschichte, nach der sie nicht fragen wollen, und beide geben sich Mühe, die Kinder vor den Ausläufern ihrer welken Illusionen zu bewahren.
»Unsere Geschichten sind immer so«, sagt Lili. »Es ist das Land. Hier entwickeln sich die Dinge gerne dramatisch.«
Ihr eigenes Leben taugt nicht minder zum Exempel. Sie lebte in Santiago, war neun Jahre alt, als 1973 der Putsch kam. Doch braucht es Tage, bis sie aus ihrer Kindheit erzählt:
»Damals bestand ab 20 Uhr Ausgehverbot. Mein kleiner Bruder und ich, wir sollten Linsen und Bohnen verlesen, bis wir einschliefen. Einmal war meine Mutter um diese Zeit noch nicht da, ich nahm meinen Bruder, um auf der Straße nach ihr zu suchen. Auf jedem Hochhaus stand ein Soldat, die schossen auf alles, was sich bewegte, also auch auf uns. Aber in jener Nacht haben wir sie heil nach Hause gebracht. Mein Stiefvater wurde interniert, in dem Fußballstadion, wie so viele. Dort hat man die Leute gefoltert. Wir haben jeden Tag gefragt, wo er sein könnte. Vor dem Stadion schrien die Leute die Namen der Angehörigen, und man hörte die Schreie der Gefolterten. Man roch das Blut. Ich war so schmal, dass ich durch die Gitterstäbe der Käfige passte. So wieselte ich hindurch und rief den Namen meines Stiefvaters. Man musste diese Namen rufen, damit alle wussten, jemand beklagt einen Verlust, jemand ist wach und kümmert sich. Den Folterern war es egal, aber den Opfern bedeutete es viel, wenn ihre Namen gerufen wurden. Ich habe all diese Hoffnungslosen gesehen, die sich aufgegeben hatten, voller Schmerz. Aufgegeben. Die Schreie der Gefolterten gellten unaufhörlich durch die Luft. Ich sehe noch die Mutter, der sie den Sohn entreißen, dessen gellende Schreie sie anschließend von hinter dem Paravent hört. Dann kommt der Folterer mit blutigen Händen, und die Mutter schreit nur: Ihr Schweine, ihr Schweine! Und ich rief immer nur von Zelle zu Zelle: Ist hier Antonio Cavallos? Ich werde mich immer erinnern an die stumpfen, angsterfüllten Augen der Häftlinge, es sind unauslöschliche Blicke. Als Kind war ich so enttäuscht vom Menschen. Dieser Hass! Mich haben die Blicke entsetzt, beiderseits, der Folternden und der Gefolterten.«
»Aber du bist dennoch heimgekehrt in dieses Land, in dem viele der Folterer noch leben?«
»Ich wollte meinen Frieden machen. Ich wollte mich verändern, um anderes zu ändern. Und dazu wollte ich ganz unten anfangen, bei der Kreatur, bei der Natur. Man wird immer mehr Teil dieser Erde, ich muss sie erhalten, ich muss das weitergeben. Ich lasse ja nicht mal einen Avocadokern in der Natur zurück, damit da nicht auf unnatürliche Weise ein Baum entsteht. Und ich fertige Sachen aus Alpaca-Filz und biete sie auf dem Markt an.«
In ihrem Gesicht übernimmt dauernd die Sorge. Wenn man allein bedenkt, wie viel die chilenische Regierung für die Aufforstung ausgibt, aber was tut sie? Betreibt alle diese ökologischen Programme mit nicht-einheimischen Bäumen! Diese verdrängen die lokalen Arten, und so hat die Wildrose schon den Calafate-Strauch vertrieben, und auch die kugelrunde, anspruchslose Dornenpflanze Neneo wird immer seltener.
»Stimmt: Hagebutten überall.«
»Wir ändern das ganze Gleichgewicht. Wir müssen den Adler, den Flamingo, den Kondor, den Ibis bewahren. Rothirsch, Hase, Wildschwein, Fasan, alles wurde erst importiert, damit wir es tot wieder exportieren können. Aber diese Arten haben keine Feinde, sie gefährden den Bestand der heimischen Tiere und werden sich hier eines Tages verheerend auswirken. Ich sehe ja täglich, wie das Gleichgewicht kippt.«
»Vielleicht ist das Land noch zu sehr mit dem politischen Chile der Vergangenheit beschäftigt und hält solche Fragen für Luxusprobleme?«
»Es
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