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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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und man kann den Rest auslutschen. Ja, gibt Lili zu, beim ersten eigenhändigen Schlachten hat ihr die Hand gezittert, aber jetzt … Jetzt rührt sie eher dieses andere Bild:
    »Nach der Schlachtung bilden die Kühe einen Kreis um die Blutlache und weinen. Das ist schlimm, das ist furchtbar.«
    Wir essen Götterspeise mit Gummibärchen-Geschmack. Weiß der Himmel, auf welchen Wegen das chemische Produkt seine Bestimmung auf diesem wüsten Hügel gefunden hat. Plötzlich reden alle von ihrer Kindheit, und als diese ausgeträumt ist, wendet sich María der Kindheit der Völker zu und zeigt uns alte Speerspitzen, die sie im Sand gefunden hat. Die gehörten zu den Patagones, den Großfüßen, die hier einmal lebten und jagten, hochgewachsene Ureinwohner, die nach Argentinien vertrieben wurden.
    »Es ist ein Jammer«, sagt Manuel, »an allen Ecken und Enden der Welt begegnet man den Überresten der ausgestorbenen Völker und den Nachkommen der Sieger …«
    »… und diese verarbeiten ihr schlechtes Gewissen zu Folklore.«
    Wir schlafen früh und spüren die Armut wie eine Gabe.
    Als wir im Morgengrauen aufbrechen, steht die Witwe reglos am Gatter, verwandelt in einen Schatten. Sie dunkelt nach, sie verliert Farbe. Wenn es Menschwerdung gibt, warum sollte es nicht Schattenwerdung geben? Der Tod des Gatten hat ihr Leben provoziert: Jetzt glaubt sie zu wissen, dass es eine Illusion ist, zusammengehalten von Illusionen.
    An diesem Tag schließen sich Buschlandschaften über unserem Weg, durchzogen von milchigen Strömen. Auf dem Boden der Becken arrangieren sich die Steine zu Pepita-Mustern. Aus den Sümpfen ragen die toten Stämme des Bosque Muerto, der nach einem Vulkanausbruch von 1991 stehen blieb als ein geschundener Geisterwald. Im nackten Astwerk hängen Flechten in gelben Fladen und schaukeln im Wind. Am Straßenrand wartet das nächste Tabernakel, dieses Mal gewidmet der Familie eines verunglückten Arztes aus Santiago.
    Sein Wagen durchbrach die Leitplanke, er selbst und seine Frau wurden aus dem Wrack geschleudert, sie waren sogleich tot. Die ältere Tochter griff man an der Straße auf, sie ging unverletzt, im zerrissenen Leibchen, seit Kilometern stumm vor sich hin. Über die jüngere Schwester, die man nirgends finden konnte, sagte sie tonlos nur, Engel hätten sie entführt und in den Himmel geleitet. Tatsächlich, spurlos schien sie verschwunden. Wochenlang hatte man trotzdem nach ihr gesucht. Erste Wundergeschichten rankten sich um ihre Gestalt – der Kern eines Kultes, der sich eben materialisieren wollte –, als man sie endlich vierzig Meter entfernt in der Krone eines Baums fand.
    Später brannte das Feuer den mythischen Wald nieder, der mit seinen verkohlten Stämmen, den weißen Blüten der ersten neuen Pflanzen und mit dem Feuerrot der Fuchsien an den Säumen immer noch wirkt, als verglimme erst jetzt seine Glut.
    Wir folgen dem morastigen Weg durch den patagonischen Regen, passieren entlegenes Gelände. Mit Grau angerührt ist die Farbe der Seen, mit ihren Ufern voll dicht wuchernder Wildrosensträucher, dick besetzt mit Hagebutten, die als fette Tomätchen auf den Zweigen prunken. Unter den Schattenwänden der Bergfirste schimmern die Wolkenwände wie fettiges Butterbrotpapier. Auch die Gebirgsmasse kommt mit dem Temperament von Stromschnellen daher.
    Die Frauen in diesem Landstrich tragen dicke wollene Pullover, die keine Körperkonturen erkennen lassen. In gebückter Haltung, wie vom Wind gebeugt, stehen sie in den Feldern, ihre Haut gegerbt von all der Frischluft, ihre Haare als geschwungene, dunkle Kappen auf dem Schädel kauernd. In die entlegenen Zonen dieser Landschaft fahren die Städter bisweilen, um ihre Hunde vor den großen Ferien auszusetzen. Mehrmals kreuzen diese erbärmlichen Kreaturen mit hängenden Lefzen und blutigen Pfoten unseren Weg.
    Wir reisen in Begleitung eines fetten Regenbogen-Paars, das sich auf einer Grundlinie von schimmerndem Violett über den nördlichen Eisfeldern spannt. Wir schauen aus dem Schatten in seine Pracht. Der kalte Hauch der Sierra Contreras mit ihren schmutzigen Gletschern weht herüber, streift das tiefe Türkis der Gebirgsseen und lässt das Kichern der von Stoßböen an den Fels getriebenen Wellen hören. Anthrazitfarbener Staub liegt auf den Schneefeldern.
    Dies ist eine Landschaft für Menschen, die sich wegwenden, aus der Gemeinschaft heraus, der Einsamkeit zu, von den Ansiedlungen fort, aus dem Strahlungsbereich der Vergnügungen, den

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