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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Nachttischschublade findet sich ein Handbuch, in dem man stolz darauf ist, vier Dienste anbieten zu können: Weckruf, Wäsche, ein Bügeleisen und Shuttle zum Flughafen. Danach folgen fünf volle Seiten Verbote und Gesetze, zum Beispiel: »Kochen Sie keine Gemüsesuppe«, »Halten Sie keine Vögel im Zimmer«.
    Um halb sechs Uhr früh erwacht im Sommer die Stadt. Noch ist die Luft klar, unbelastet vom Qualm des Schwerverkehrs, noch strahlen die Neonschriften mit ihren schmissigen kyrillischen Zeichen und schlichten Botschaften in die Dämmerung. Die Vögel schreien lauter, als die Kleinwagen hupen, und in den lagerartig in lauter tristen Zeilen an den Hang gesetzten Plattenbausiedlungen gehen die ersten Lichter an. Aber aus den hohlen Fenstern der Bauruinen, den aufgegebenen Bauten gähnt die schwarze Nacht noch, als habe sie nur hier ihr Zuhause, und das Rosa der Morgenwölkchen bedeckt den traurigen Ort mit Kitsch.
    Auf der Straße Heimtorkelnde, verschlafene Taxifahrer, Frühschichtarbeiter, alles in allem lauter aufgetaute Menschen. Sie kommen aus dem langen harten Winter, blinzeln in die Sonne, blühen kurz und rollen sich irgendwo wieder ein, in den Disko-Schuppen, den Fitness-Studios, auch den Kinos, die sich als die illuminierten Portale zur Welt anbieten.
    Ab halb sieben gibt es Frühstück mit Spiegelei samt Krebsfleischbelag, rotem Kaviar, Weißbrot und der russischen Fassung von »Livin’ La Vida Loca« im Ohr, das hier noch verrückter klingt als bei Ricky Martin. Die Bedienung ist eine uniformierte Gestrenge, die mich durch die Durchreiche minutenlang mustert, ehe sie langsam Teller für Teller bringt. Es sind auch Desserts darunter, die alle aussehen, als seien sie in die Schminktöpfe der russischen Frauen gefallen.
    Als die Dämmerung gerade verklingt, finde ich mich auf den Straßen, unter Erkern, die vollgestellt sind wie Speicher, mit ihren Blechverschalungen auf der Wetterseite. Menschen, die sich farbig anziehen, buntes Make-up tragen, als müssten sie der Tristesse der Architektur ihren persönlichen Frohsinn entgegensetzen. Das macht sie noch trauriger. Für die goldenen Knospen der neuen Kathedrale haben die Reichen ihr Zahngold und ihren Schmuck gespendet, und tatsächlich erhebt sich der Bau auf den Grundmauern eines ehemaligen Theaters zu einer deplatzierten Pracht, die nur noch mit den Werbetafeln konkurrieren kann.
    Auf dem Markt stehen die Frauen in langen Reihen vor ihren Lachskaviarbottichen. Zum Probieren werden kleine Häufchen auf den Handrücken gekleckst. Jede Frau hier hat ihr eigenes Rezept, baut auf einen bestimmten Salzgehalt, eine spezifische Konservierung. Das soll alles hygienisch bedenklich, wenn nicht hoch gefährlich sein, aber stünden die Händlerinnen seit dreißig Jahren da, wenn sie ihre Kunden in den Tod fütterten?
    Ich sehe einem Gehörlosen-Pärchen auf dem Bürgersteig zu. Er bockt, hat seine Hand der ihren entzogen. Sie redet mit geräuschlos belfernden Lippen auf ihn ein. Er wischt alles weg. Ihre Gesten werden größer, sie machen sich Luft. Er stimmt ein gestisches Anschreien an, raumgreifend, mit den klobigen Händen die Luft sichelnd. Ja, auch sonst scheint er ein Wunderlicher zu sein. Sie weicht zurück mit einer Mimik wie im Stummfilm, aber er hat nicht genug. Erst fährt seine Faust in den Himmel, darauf zieht er dreimal hintereinander eine jähe Linie zwischen sich und sie. Dann wendet er sich weg und lässt sie stehen. Aber schon wenige Meter später weiß er kaum, wie er sich noch orientieren soll. Synchron wenden sie sich wieder einander zu, getrennt, doch unfähig, es zu sein.
    Petropawlowsk trägt bei manchen den Titel »dreckigste Stadt Russlands«. Kein Wunder also, dass alle hier in die Natur streben. Doch es ist ein Unterschied, ob man eine Stadt vom Land aus entdeckt oder das Land von der Stadt aus. Nein, Petropawlowsk ist so, damit einem die Natur umso ergreifender und reiner erscheint. Und da ganz Kamtschatka, immerhin doppelt so groß wie Deutschland, nur über 130  Kilometer eines zerrissenen Netzes asphaltierter Straßen verfügt und nach sieben Monaten im Schnee nur eine kurze Blüte im schwelgerischen Sommer erlebt, ist die Natur hier schwerlich totzukriegen. Sie übernimmt hinter der Stadt mit Steinbirken-Hainen auf sumpfigem Grund, Halbstauden und Kiefernwäldern, in die sich ab und zu ein »Schaschlik Café« schiebt. Im Sommer sind die Wegränder staubig, und auch der Baum bei der silberhaltigen Quelle, an den man Stofffetzen

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