Die Enden der Welt
Wolkensahne, oben der federzarte Gazeschleier, dazwischen die Matronen mit ihrem Qualm, ihrer verrauchten Aura, von Vulkanasche gesättigt. Schmutzig schmieren sie ihre Ausdünstungen in die Wolkenkissen.
Es öffnet sich die weit geschwungene Awatscha-Bucht. Das Land, das zu den Füßen der Berge erscheint, ist gemustert wie Borke am Stamm. Das Brachland zwischen den Wasserläufen und Seen, die Flecken kleiner Sippenhöfe, die aus Baracken und Hütten zusammengeschachtelt sind, die Umgehungen der Verkehrswege, die sich höflich den Bergen, den Wasserläufen, den Vulkanen Awatschinskaja Sopka und Korjakskij anpassen, dieses ganze natürliche Patchwork wird von einer Kraft dirigiert, die in den feuerspeienden Bergen nur ihre sichtbare Materialisierung gefunden hat.
Kamtschatka liegt auf dem »Pazifischen Feuerring«. Im Osten verläuft er entlang dem Alëuten-Tiefseegraben, dessen Ausläufer bis hinab nach Kalifornien reichen, und insgesamt beschreibt er instabiles Gelände. Von Süden aus schiebt sich die dichtere Ozeanische Platte allmählich unter die asiatische Festlandsplatte, und so entlädt sich auf der gesamten Halbinsel eine Erdenergie, die sich in Vulkanen und Geysiren sichtbar Luft macht. Diese Landschaft, eine der erdgeschichtlich jüngsten der Welt, ist von der Verschiebung der tektonischen Platten dauernd erschüttert.
Erdbeben gibt es hier manchmal mehrmals pro Woche, und wenn es klirrt oder schaukelt, dann werden sich die Einwohner bloß mal wieder ihrer Sterblichkeit bewusst und der Tatsache, dass sie auf einem jungen, sehr jungen Landzipfel wohnen, einem nicht fertiggestellten, und sie könnten sich darüber klarwerden, dass wir einen lebenden Planeten bewohnen, mit immenser Energie in seinem Kern. Geologen warnen, dass es hier in absehbarer Zeit zur Katastrophe kommen muss. Die Stadt wird verschwinden, einem Ausbruch oder Beben zum Opfer fallen, aber die Einheimischen bleiben und sagen: Nicht jetzt, nicht heute, nicht zu unseren Lebzeiten. Wo sollen wir sonst hin? Sie leben anders als wir, bewusster befristet.
Neun Stunden braucht man ab Moskau, um den russischen Kontinent zu überfliegen, bis in die äußerste Spitze, wo man von den Herren in Moskau seit alters her wenig weiß und noch weniger wissen will. Das also ist Kamtschatka, der Küste vorgelagerte Halbinsel, die fernste Ferne, von der auch Moskau lange Zeit nur eine diffuse Vorstellung besaß. Ein Trio von Vulkanen ist das Wahrzeichen dieser Region.
Knapp sieben Monate Froststarre bewahren Kamtschatka wenigstens zeitweise vor ihrer Energie, doch die Angst vor den Tsunami, die auch eine Folge seismischer Aktivität sind, hat nicht zuletzt dazu geführt, dass die Hauptstadt Petropawlowsk Kamtschatski lieber im Inneren einer gewaltigen Bucht siedelt als in dem breiten, fast unbewohnten Küstenstreifen.
Die Landung des Kosaken Wladimir Atlassow im Jahr 1697 wird allgemein als die Entdeckung dieser Halbinsel in Russisch-Fernost angesehen. Früher müssen hier jedoch schon Namenlose, Spurlose, vermutlich Pelztierjäger, angekommen sein. Aber erst als Zar Peter I. 1724 den Dänen Vitus Bering einbestellte und ihn mit dem Auftrag versah, herauszufinden, wo das russische Reich genau ende, wo die Landmassen auf das Meer stießen, und ob sich dort nicht vielleicht einzunehmendes Land öffne, war der Grundstein zur Erforschung der äußersten Grenze des Reiches gelegt. Bering brach auf, der Zar starb ein Jahr später, lange bevor der Däne 1730 seine Ergebnisse heimbrachte, die dann weder Anna Iwanowa noch sonst jemanden sonderlich interessierten. Nur Bering selbst war von seiner Mission überzeugter denn je und machte sich fieberhaft an die Vorbereitung der Großen Nordischen Expedition, zu der er 1733 aufbrechen, die er aber nicht überleben sollte. Er starb auf den östlich vor Kamtschatka liegenden Kommandeurinseln.
Bis zur Wende zum 20 . Jahrhundert sind dann immer wieder Expeditionen nach Kamtschatka gezogen, zunächst geleitet von wirtschaftlichen Interessen, die sich vor allem an die Zobeljagd banden. Schließlich aber wurden wie überall die Ureinwohner in brutalen Kämpfen unterworfen und für die eigenen Zwecke dienstbar gemacht, ehe man im 20 . Jahrhundert, im Verlauf ihres Aussterbens gewissermaßen, die Tschuktschen ethnologischer Forschungen für würdig erachtete.
Steigt man heute bei Petropawlowsk auf einen Berg und blickt in die Runde der Bucht mit ihrer breiten Hafeneinfahrt, ihren verstreut und von keiner Stadtplanung
Weitere Kostenlose Bücher