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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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bindet für sich, die Frau, die Geliebte oder künftige Frau, steht behaucht vom gelben Film des Straßenstaubs.
    An den Hängen aber funkeln sie wieder, die Birken, die man in dieser dunklen Gegend als die Lichtbringerinnen liebt. Das Silber ihrer Stämme schimmert noch durch die Dämmerung – ein Naturzauber, der sich edelmetallisch gegen das ganztägige Zwielicht durchsetzt.
    Seit Tagen fahren wir allmorgendlich in das Dickicht der großen, teilnahmslosen Landschaft hinein mit ihren spärlichen Siedlungen. In den blau gestrichenen Bushäuschen stehen großbusige Frauen mit blonden und schwarzen Haaren auf demselben Kopf und einem Mondrian-Druck auf dem T-Shirt. Spricht man sie an, öffnen sich ihre Gesichter und ergehen sich in einem gurgelnden Russisch, das mir von Nastja, der Dolmetscherin, in ein warm gefärbtes Deutsch übersetzt wird, während sich Sergej am Steuer als der »Mann der tausend Geschichten« bewährt, der seine Pointen auch auf Englisch präpariert hat.
    Die Sträucher drängen sich von beiden Seiten an die Fahrbahn, als gäbe es etwas zu sehen. Dabei führen diese Schotterwege nur geradlinig auf den Horizont zu, und manchmal fährt ein Alter mit seinem Fahrrad vorbei, oder ein Soldat pisst ins Gebüsch, von Mücken umschwärmt. Dann wieder öffnen sich die Perspektiven zu gigantischen Tälern, in denen die Brache groß und verschwenderisch liegt, als sei es der einzige Sinn der Landschaft, den Vulkanen als Auslegeware zu dienen.
    Manchmal stehen in den Dörfern acht Frauen hintereinander vor ihren Wägelchen, in denen sie unter heißen Tüchern ihre Piroggen warmhalten mit Kartoffelfüllung oder Speck, Kohl, Zwiebeln, Gehacktem, Waldfrüchten und Apfel. Die LKW -Fahrer schlendern heran, die meisten mit blankem Oberkörper oder im Unterhemd, oder die Soldaten oder Freizeitkrieger in ihren Camouflage-Overalls. Irgendwie nehmen immer alle Szenen die Färbung des Landes an.
    Am dritten Tag sammeln wir zwei Wanderer auf, die verloren durch die Sonne traben, Jelena und Kolja, sie von hintergründiger, pausbackiger Selbstversunkenheit, scheu und verlangsamt in allem, was sie sagt, und versonnen selbst im Gehen, er ein schmaler, kluger Junge mit schnellen kurzen Bemerkungen und guter Beobachtungsgabe. Jelena trägt eine Ballonmütze, die die Formen ihres Gesichts aufnimmt, Kolja eine blau-weiß-schwarz gestreifte Kapuzenjacke, eigentlich ein Textil aus Kinderzeiten, dazu die Baggy-Pants des Rappers.
    »Wo wollt ihr hin?«
    Kolja weist mit dem Finger auf eine ferne Anhöhe. Wo das Kraftwerk sei, dort wolle er sich gerne mal umsehen.
    »Das hätte sie ohne Auto Tage gekostet«, lässt mich Sergej wissen, als wir uns am Straßenrand die Beine vertreten. »Ohne Rastplatz, ohne Essen. Die arme Frau, ihr Kerl hat Nerven.«
    Wir schrauben uns hoch in die unwirtliche Vulkanlandschaft. Das Mondtal, in dem der gelbe, lagerartige Trakt des Kraftwerks liegt, ist umgeben von Warnschildern, Wellblechhütten, Containern, rostigem Gerät, ein paar Baracken für die Arbeiter, und weiter hinten erhebt sich der gelbe Quader eines Hotels für die höheren Angestellten.
    Ohne Erlaubnis erhält man keinen Zutritt zum Gelände, aber Sergej schlendert strahlend, schon aus der Entfernung das Gespräch aufnehmend, auf den Schlagbaum zu, wo der Uniformierte mit seiner Familie und den zwei Hunden schon zu lachen begonnen hat. Es herrscht Sonntagnachmittagsstimmung. Man tauscht Geschichten aus, bringt den Klatsch auf den neuesten Stand, und unterdessen hat der Passierschein den Besitzer gewechselt. Unsere kleine Gesellschaft schlendert den Schotterweg herunter, an Ventilen vorbei, aus denen Dampf austritt, Becken, in denen die Abwässer gesammelt werden, trübe dunkle und giftig blaue, die in den nächsten Fluss geleitet werden. Dieser Fluss ist tot. Sergej steht vor der Anlage: Die Maschinen dröhnen, an drei Stellen steigen Rauchsäulen in die Luft:
    »Nun war ich schon so oft hier, und jedes Mal ist es auf andere Weise schön. Immer weckt dies auf andere Weise schöne Gefühle.«
    Das Werk liegt in einem Hochtal, eingefasst vom Amphitheater der Vulkane, ein Rückzugsort, auch für ein Kraftwerk. Hydranten ragen aus dem Schnee, Pipelines laufen in alle Richtungen. Wir steigen über Rohre, durch ein Gatter, in einen Aschenhang. Jelena und Kolja dokumentieren sich wechselseitig mit Foto- und Videokamera. Seit dreizehn Jahren sind sie zusammen. Wenn sie sich nicht filmen, geben sie sich ungeübte Küsse oder nehmen sich bei der

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