Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
Hand. Eine Schwäche scheint auf dem Grund ihrer Stärke zu liegen.
    Jelena hat keine Eltern mehr. Sie ist so introvertiert, dass sie wohl eigentlich nur ein einziges Gesicht machen möchte. Das macht sie immer. Manchmal wendet es sich gütig dem Mann zu, manchmal fragend uns. Außen kommen diese Unterscheidungen kaum an. Vielmehr interpretieren wir sie in ihrem Zusammenhang, und nur Jelenas Lachen ist ein Ereignis, das alle Nuancen über den Haufen wirft, so ungestüm macht es sich breit.
    Eines Tages wird ihr Gesicht streng werden, eine Gereiztheit wird sich über der Nasenwurzel festsetzen, man kann sie schon kommen sehen. Andererseits aber wird auch die Güte ihr Gesicht wohl nie ganz verlassen. Scheint es auch manchmal von dunklen Stimmungen erreicht und überflutet, so kennt man ihren Ursprung so wenig wie den ihres Lachens, das am offensten ist, wenn es scheinbar grundlos kommt.
    Erzählt Sergej aber wieder eine seiner Geschichten, von denen ihn keine Mühe des Weges abhalten kann, dann lacht Jelena eher gutmütig, auch ein wenig mitleidig, jedenfalls wie eine, die nicht Spielverderberin sein will. Eine dieser Geschichten geht so:
    »Eine Frau drängelt sich an der Supermarktkasse vor und sagt: Ich bin schwanger. Versteht ihr: schwanger! Die Leute hinter ihr schimpfen natürlich und sagen: Wir sehen aber nichts! Da sagt die Frau: Was kann ich dafür, dass man eine halbe Stunde danach noch nichts sieht!«
    Wir steigen in einen Erdtrichter. Der Boden wirkt blauschimmelig und verdorben, dann gelbstichig bis ins Grün changierend wie ein Schwamm an der Wand, ein übler Wasserschaden, Pilzbefall oder angelaufene Badewannenglasur. Körnig und porös ist der Stein, er krümelt unter den Fingern, und wo man in eine Erdvertiefung fasst, wird es heißer. Hier berührt man etwas in engem Zusammenhang mit dem Erdinneren.
    In ihrem gelben T-Shirt steht Jelena und beugt sich über die dampfenden Felsspalten. An manchen Stellen kocht das Wasser hoch und spritzt heraus in kleinen Fontänen, an anderen siedet es nur oder tritt wie durch Perforierungen aus. Schwefelgelb und Rost sind die Farben, Krampfaderblau und Flechtengelb. Das Aquarell der Erde kennt nur verlaufene Töne. Dumpfig aufgeheizt ist die Luft, in die Nastja ihren Zigarettenrauch ausatmet. An anderen Stellen tritt der Rauch aus wie durch Düsen. Das Gras am Bachlauf strotzt giftgrün, rötlich schimmert der Hang, die höheren Pflanzen halten Sicherheitsabstände. Wund ist die Erde, strapaziert und durchlässig.
    Jelena blickt auf die heiße Quelle und sagt:
    »Es ist wie im Märchen, ein Jungbrunnen. Man taucht als Mutter unter und als Mädchen wieder auf.«
    »Und wie oft bist du schon untergetaucht?«
    Sie schüttelt bedächtig den Kopf:
    »Wir Frauen aus dem Norden werden von der Kälte konserviert.«
    Ihre Jeans ist an einem Riss sorgfältig gestopft, die Applikationen auf dem senffarbenen T-Shirt, das so gut in die Landschaft passt, sind abgerieben, wo der Stoff fadenscheinig geworden ist, sind ihm frische Fäden zu Hilfe gekommen.
    Es könnte so sein: Ihre Schüchternheit hat sie in die Arme des Ersten getrieben, der sie erkannte. Von ihm hat sie alles gelernt und behandelt es nun wie Geheimwissen. Es ist vielleicht nicht so, dass sie ihn unbedingt gewollt hätte. Sie wollte nur einfach alle anderen nicht. Noch jetzt greift sie in jedem schwachen Moment nach seiner Hand. Es ist ihr recht, dass er ein Soldat ist. Ein Soldat ist ein respektabler Mann und für sie so etwas wie ein moderner Ritter.
    Kolja ist ursprünglich Weißrusse, doch er ging zum Militär, verbrachte ein Jahr in Äthiopien und kehrte schließlich nach Russland zurück, wo er auf einem Stützpunkt im Nordwesten Dienst tut. Seiner Frau darf er von Äthiopien zwar erzählen, die Äthiopierinnen aber lässt er dabei aus. Denn schon wenn man sie bloß erwähnt, dann wütet sie gegen diese Frauen mit ihren afrikanischen Sitten. Als er dort war, in diesem Äthiopien, hat sie jede Nacht geweint. Aber ihr jetziges Leben ist gut, sagt sie. Sie haben zwar wenig Geld, dürfen aber in der Kaserne leben mit ihren beiden Kindern. Ein Freund hat ihnen Kamtschatka als Urlaubsort ans Herz gelegt, er kommt aus Petropawlowsk und hat sie in seine kleine hiesige Wohnung eingeladen. Aber gerade als sie anreisten, musste er die Stadt verlassen. Jetzt leben sie in seiner Wohnung außerhalb der Stadt, haben aber niemanden, ihnen zu sagen, was man hier unternehmen könnte. Zweimal waren sie in Petropawlowsk, aber

Weitere Kostenlose Bücher