Die Enden der Welt
gläserner Sauce.
Der herbe Boden Russlands liegt unter Ihnen, spannen Sie die Flügel aus, und Sie haben irgendwo vor sich Sibirien und unter sich die Mandschurei und in den trockenen Flussläufen die Kavallerie des Dschinghis Khan mit ihren Standarten.
Die Geschäftsleute mustern unter halb geschlossenen Lidern die ethnische Vielfalt auf dem Tablett. Sie haben Europa nicht verlassen, Asien nicht betreten, im kulinarischen Niemandsland herrscht ein Crossover.
Es sind auch die Namen, die man bereist, Worte mit dem mythischen Klang von Samarkand, Surabaya, Havanna, Damaskus, Dakar, Timbuktu oder eben Kamtschatka. Ein Name wie ein Takt aus einem Marsch, gesungen von einem Männerchor. In dem Wort öffnet sich ein Raum, er wird weit. Das ist das Gute. Denn eigentlich werden die Räume eng. Überbevölkerung, Kriege, Migrationsbewegungen, Naturkatastrophen, Ressentiments, Seuchen schieben sie zusammen. Auch dehnen sich die Städte immer fahrlässiger aus, nicht nur, indem sie die Grauzonen der Stadtränder eingemeinden, schlimmer, sie machen aus Dörfern etwas Städtisches, etwas, das tut, als sei es metropolisch und habe metropolische Bedürfnisse zu befriedigen.
Die Dörfer reagieren nicht mehr auf die Bedürfnisse von Dörflern, sie kennen nur Städter, und so werden wir allmählich klaustrophobisch. Wir kommen nicht mehr heraus aus den Städten. Also sind unsere Reisen Übersprungsreisen. Wir folgen einem Reflex, streben ins Freie. Es ist, als bliebe unser Leben im Aufzug stecken. Kaum kommen wir frei, stürzen wir hinaus und suchen ein Wort, ein umschwärmtes Wort wie: Kamtschatka.
Die Wolken haben, von oben gesehen, die Schönheit von Pelzen. Ihre Oberfläche streckt sich der Berührung förmlich entgegen, und der leiseste Strich, etwa durch die flache Kante einer Tragfläche, schneidet ihre Form. Sie bäumen sich auf, wälzen sich langsam auf die andere Seite, und ihre Enden verflattern in die Atmosphäre.
Nach ein paar Stunden Flug hatte ich die Sichtblende des Fensters so weit angehoben, dass das milchige Licht eindringen konnte, ohne den schnarchenden Koloss zu meiner Linken aufzuwecken. Unter uns lag jetzt verwüstetes Land, trockene Mäander in verwehten Tälern, verdorrte Steppe, eine Decke Dreck, breitgetreten und auseinandergezogen, wie mikroskopierte Haut oder Tapete – und zugleich wie gar etwas, das ich nie gesehen hatte. Die Sonne welkte am Horizont, wollte nicht auf-, nicht untergehen.
Wir flogen in die subarktische Landschaft hinein, eine dünn besiedelte, die bis 1990 atomares Sperrgebiet und unzugänglich war. Seitdem schrumpft die Hauptstadt Petropawlowsk Kamtschatski. Es lebten einmal gut 300 000 Einwohner hier, heute sind es mehr als ein Drittel weniger, und sie mögen es nicht hören, wenn man dies »Sibirien« nennt, klingt es doch zu streng nach Straflager und Verbannung.
»Wir nennen uns Fernost«, sagt eine Dame im Flugzeug schnippisch, schnappt sich die russische »Hello« und widmet sich einem Zusammenbruch von Amy Winehouse. Ich blicke mich im Flugzeug um. Dies also sind bereits die Menschen, die in Kamtschatka arbeiten, leben, wohnen oder Gründe haben, diesem östlichen Außenposten des russischen Reichs einen Besuch abzustatten.
Zwei betagte Männer mit großen Körpern und struppigen grauen Frisuren zechen, reden laut gegen den Lärm der Motoren, fahren die Lehnen zurück und sehen sich mit Schweinsäugelchen an wie Verliebte. Sie halten ihre Blicke fest, als hätten sie nichts anderes im Leben. Dann zwinkern sie einander zu, voller Einverständnis, kokett und schwülstig, und essen Geleefrüchte mit Erdnüssen. Einmal flüstern sie der Stewardess etwas zu, das macht, dass sie errötend hinter dem Vorhang verschwindet, wo sie, wie sich herausstellt, ihr kurzärmeliges Leibchen gegen ein strenges Uniformkostüm wechseln wird. Die Stimmung in der Kabine ist rau, derb, anstrengend und nur abrupt wohlwollend.
Dann die Westküste Kamtschatkas: Die Zeichnung der Berge mit ihren Schneerippen wirkt wie mit unbeholfener Hand graphisch eingetragen. Dann schließt sich die Wolkendecke, aber wo sie von unten ausgebeult wird und sich einzelne Kumulus-Türme heben, weiß man um die vulkanische Tätigkeit darunter. Erst der Opala, dann treten auch die schwarzen Vulkankuppen rings um Petropawlowsk energisch durch die Wolkendecke, der Awatscha, der Mutnowski. Eine Weile ist man mit ihnen allein zwischen den Schichten, in die sie ihre Fumarolewölkchen entlassen: unten der Schaum der
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