Die Enden der Welt
gemaßregelten Siedlungen und Häuserkomplexen, ihrer glanzlosen Erscheinung, dann wird der Grünstreifen der fast unbesiedelten Küste, die dieses von keiner Kosmetik entstellte Gesicht Amerika zuwendet, beinahe unverändert so erscheinen, wie es die Forscher damals gesehen haben müssen.
Die erste Kamtschatka-Expedition von 1725 zog noch an Petropawlowsk vorbei. Die spätere Hauptstadt war seit ihrer Gründung 1740 eine Garnisonsstadt, nicht mehr. Schon Katharina II . hatte hier Bauern ansiedeln wollen. Die aber zogen die Fischerei vor und tun es noch heute. Brachland, wohin man blickt. Die Beamten der Zaren verzweifelten an der Mentalität der ungebärdigen Bauern, die die Landwirtschaft ebenso wenig wie die Schafzucht in Angriff nehmen wollten. Stattdessen widmete man sich dem Lachsfang, und noch heute gibt es nirgends auf der Welt einen so reichen Bestand der unterschiedlichsten Arten wie hier, wo der Wildlachs in solchem Überfluss vorkommt, dass er sogar als Tierfutter verwendet wird.
Ähnlich gibt es auch kaum irgendwo auf der Erde eine vergleichbar starke Bären-Population. Doch kämpften sich die frühen Trapper durch den Winter, durch die Entbehrung eines Lebens in Laub- und Erdhütten, so kommen die Jagdgesellschaften heute mit Privatflugzeugen aus Moskau, knallen manchmal aus der Luft ihre Beute ab und sind wieder weg. Andere Jäger konzentrieren sich vor allem auf die Bärengalle, der in China aphrodisierende Wirkung nachgesagt wird, und so findet man in der Wildnis bisweilen Bärenkadaver, denen nur die Gallenblase entnommen wurde.
Keine zwei Jahrzehnte ist es her, da existierte Kamtschatka noch als unzugängliches, verbotenes Land, als militärisches Sperrgebiet. Im Kalten Krieg war hier die größte U-Boot-Flotte des nordpazifischen Raums stationiert, und der Lageplatz der Fischereiflotte, abgeschnitten vom Festland, besaß nicht einmal eine Eisenbahnverbindung zum Rest der Welt. Ein Ort für Wunderlichkeiten also, für Geheimnisträger und Sektierer, ein Ort ohne Öffentlichkeit.
Und dann fasst dich die Fremde an, und du bist plötzlich sehr weit weg, unüberbrückbar entrückt wie in einem Exil, ohne die Möglichkeit einer raschen Heimkehr, ausgesetzt und abgeschoben. Die Fremde schließt dich dann ein, du stößt dich dauernd an ihr, kannst dich drehen und wenden, wie du willst, sie wird dasselbe Gesicht, dasselbe Unverständnis zeigen. Sie wird dich abstoßen, ausscheiden, und du verlierst dich in der großen Wesenlosigkeit, auf den Gehwegen, die nirgends hinführen, zwischen den Häusern mit ihren blasigen Anstrichen, dem vom Salzwasser mitgenommenen Putz, in der grandiosen Tristesse einer Ansiedlung, die nicht behaust sein will, sondern zwischen den Versuchen, zu unterhalten, zu verwalten und zu ernähren, keine Sprache gefunden hat.
Die Häuser stehen ungeplant, als habe man sie bloß so über dem Land ausgeschüttet. Manchen Fassaden wurde ein rosa-blauer Pastellanstrich verpasst, vielleicht, weil nichts sonst Pastell ist. Auf einem wie abgehäuteten Stück Erde hat man einen Luna-Park errichtet. Aber niemand betreibt den Auto-Scooter, nicht einmal Licht brennt. In den vier fast identischen, nebeneinander errichteten Imbissbuden warten vier Verkäuferinnen auf die Käufer von vier Sorten fast identischer Lachsbrötchen. Die monumentalen Bauten der Stadt sind unscheinbar in ihrem grauen Putz, beherbergen Verwaltungen und Universitätsabteilungen. Die grandiosen Bauten aber sind bunte Konsumkathedralen, vom Menschen und allen seinen guten Geistern verlassen – einschüchternde, aus einer anderen Welt entführte Satelliten, die eines Tages abheben und davonfliegen werden.
Vor den Toren lagern missmutige junge Soldaten, die man hierher versetzt hat und die ihr Unglück mit sehr viel Alkohol und abendlichen Aggressionsschüben therapieren. Und wenn man in ein Restaurant geht, erwartet einen in einem Kunst-Habitat aus Pappmaché der aufgerichtete Braunbär mit seinen Jungen am Entrée. Solche Schwulstformen des Sentimentalen kommen wie Anfälle, wie poetische Schübe, die sich in den Formen vergreifen und märchenhaft übertrieben sind, wo man dem eigenen Leben einen Überbau geben will.
Mein Hotel ist von außen ein glanzloser Kasten mit blätternder Fassade, innen aber betritt man eine Halle, in der ebenfalls ein ausgestopfter Braunbär mit gefletschten Zähnen seinen gemalten Lebensraum verteidigt. Die Zimmer sind altrussisch, mit schweren goldenen Brokatstoffen, und in der
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