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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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das, finden sie übereinstimmend, sei keine schöne Stadt.
    »Was habt ihr also sonst gemacht?«
    Sie errötet.
    »Gebadet.«
    Als wir die beiden am Abend in einer ärmlichen Siedlung aus Baracken absetzen, sie beschämt die Hand an den Mund hält, weil alles ringsum so dürftig ist, sagt sie:
    »Ich habe einen Tag so voller Eindrücke erlebt, dass ich sie kaum mehr beherrsche.«
    Und Kolja verbeugt sich steif und sagt:
    »Thank you, Sir.«
    Als ich frage, ob sie am nächsten Tag wieder mit uns kommen wollen, legt er die Fingerspitzen an die Schläfe und wiederholt:
    »Thank you, Sir.«
    Und so sind wir am folgenden Tag wieder beisammen: Sergej, der Asket mit den strahlenden Augen, den Yoga-Kenntnissen, den endlosen Geschichten und seiner Begeisterung für jeden Hügel; Kolja mit dem lächerlichen Freizeithut, der intellektuelle Soldat, der die Natur sorgfältiger beobachtet als die Gesellschaft um ihn und alles fotografisch festhält; Nastja mit den zurückgebundenen Haaren auf dem Blondschopf, die dauernd übersetzende, in alle Himmelsrichtungen Agierende, der Gruppe ihr Temperament Schenkende; Jelena mit dem stillen, insistierenden Blick, der in der Verlegenheit oft in Ironie umschlägt, und mit der sanften Stimme, die manchmal lamentierend klingt; schließlich Galina, eine damenhafte Freundin mit Picknick-Korb, die uns mit den Behörden helfen soll. Wir essen auf der Ladeklappe unseres Jeeps: Lachs, Tomaten und Gurken, roten Kaviar, Würste, Weißbrot, Räucherfleisch, wir trinken das Quellwasser, das wir am Weg abgefüllt haben, und Kwass, den vergorenen Brottrunk.
    Nachdem wir getrunken haben, legen wir uns in die Wiese und betrachten die Wolken wie Bilder im Museum, die berühmten Wolken Kamtschatkas. Es kommen ja Menschen her, um bloß sie zu sehen, die schönsten Wolken der Welt: die Blumenkohlwolken, die Linsenwolken, die Ufos, die wie gequollener Sago sind, großperlig mit starken grauen Zellwänden.
    Heute etwa hat der Pinselstrich des Föhns die Wolken mit breiter Quaste verteilt, ein paar Federwölkchen sind entkommen und schweben schwerelos, als wollten sie das Landschaftsdesign auf den Himmel übertragen. Schneeflecken liegen mitten im saftigen Grün, die hohen Matten leuchten grün-weiß. Manchmal sieht es aus, als habe der Berg Schnee ausgespuckt und dieser fließe zwischen den Lavarücken zu Tal. Jetzt werden die Panoramen groß. Wir steigen auf einen Berg, wo die Hochebene steinig ist und man die Sonne kaum spürt, und zählen von einem einzigen Fleck aus neun Vulkane, neun Individuen, mal effektvoll, mal unscheinbar schön. Sergej wird nie müde, die Schönheit der erloschenen wie der tätigen Feuerspeier zu bestaunen, ihre Namen zu nennen, sie schwärmerisch von einer Liste zu lesen, die fünfundzwanzig aktiven, die zahllosen untätigen.
    Wann immer man sich kurz von Sergej entfernt hat, kehrt man zurück, und er ist gerade mitten in einer Geschichte, die in der Natur spielt. Eben erzählt er von einer Köchin im Lager, die sich plötzlich allein mit einem Bären fand. Sie schrie, der Bär zog sich zurück. Stunden später schrie sie noch, und noch viel später schrie sie immer noch. Als die Gruppe ins Lager zurückkehrte, schrie sie schon leiser, war aber völlig betrunken, weil sie in ihrer Angst zwei Flaschen Martini geleert hatte, zwischen den Schreien.
    Der Kuckuck ruft.
    »Warte«, sagt Nastja und zählt. »Wie lange werden wir leben? 70 , 80 , 90  …«
    Wir werden 120  Jahre alt und bewegen uns langsam über eine Hochebene. Manchmal frisst sich der Weg durch zwei Meter hohe schmutzige Schneeschneisen. Dann wieder liegen die Felder frei, übersät mit Felsbrocken. Schweigt der Kuckuck, bleibt nichts als das Sirren der Insekten, und bisweilen klingen nie gehörte, bizarre Vogelrufe im Dröhnen des Windes. Hochstielige Strommasten stolzieren rostig über die Bergrücken, unter den Überlandleitungen hindurch schießen Rinnsale aus Schmelzwasser, an ihren Ufern schütteln sich dickleibige Vögel, ehe sie zu Fuß weitergehen, durch die frische Schneeluft mit Schwefelaroma.
    Jelena sagt mir, was immer sie sagen will, auf dem Weg über Nastja, sie sagt es in gediegenen kompakten Sätzen von einigem Nährwert, zum Beispiel:
    »Die Frauen des Nordens nehmen die Stille ihrer Landschaft in sich auf.«
    Sie sagt nur diesen einen Satz. Soll er sich setzen wie ein Aphorismus, und ich schaue sie an, ihre verrätselten, schräg stehenden Augen über den hohen Wangenknochen, ihren strengen Mund, aus

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