Die Enden der Welt
dem dieser Satz kam, und der dabei weder streng noch still war.
Jelena und Kolja sind seit dreizehn Jahren ein Paar, aber sie geben sich immer noch Küsse, als müssten sie einen leeren Raum füllen. Trotzdem erlaubt sich Jelena bisweilen kleine frivole Anspielungen, die sie, verschlossen wie sie ist, noch hintergründiger erscheinen lassen. Ich vergleiche Sergejs Badehose mit einem Küchenvorhang, sie lacht und sagt:
»Am besten lebt es sich ganz ohne Vorhänge.«
Ich nenne Jelena »Mischutka«, die Bärin. Sie sagt:
»Erst heute Nacht werde ich zur Mischutka.«
Ihr Blick ruht dann versonnen auf einem Punkt in der Ferne. Dort ist nicht ihr Mann. Dort ist vielleicht gar kein Mann, nur ein diffuses Wissen, in das sie niemanden einweiht, ein Begehren, von dem sie allein weiß, wie sie sich dazu verhalten soll. Dann, und es geschieht nur selten, flitzen ihre Augen zu mir hinüber, um eine Reaktion einzufangen. So schüchtern wie selbstbewusst, verkörpert sie die Frau, die unter der Scheu um ihren Reiz, sogar um den Reiz der Scheu weiß, und sie bindet beides mit Würde zusammen.
»Meine Küche ist so groß wie der Innenraum dieses Wagens«, sagt sie, »und der Kuchen, den ich für dich backen würde, wäre größer, als mein Herd es fassen könnte.«
Es ist wie im Märchen, sie übersetzt ihre Zuneigung in Kuchen!
Heute sind wir Stunden unterwegs, als wir auf einen Schlagbaum zufahren, abermals ein Sperrgebiet, rings um das Geheimnis eines neuartigen Wasserkraftwerks. Galina ist die Justitiarin der Betreiberfirma, und als unsere Lotsin hält sie am Posten ein Papier mit einem Zahlencode hoch, bis eine Stimme aus dieser Rufsäule mitten in der Wildnis bellt und der Wagen passieren darf.
Wir sind nicht weit gekommen, da verraten das Schwanken und Rütteln der Sträucher am Straßenrand den Bär auf der Jagd. Als wir anhalten, tobt er tiefer in das Dickicht hinein, schnaufend und grummelnd. Impulsiv gehorchen alle Beteiligten dem Geschlechterklischee: Drei Männer springen auf den Kranz der Böschung und verfolgen noch eine Weile mit den Augen die Spur, die das Schütteln der Sträucher und kleinen Baumkronen durch das Dickicht zieht. Drei Frauen verharren im Wagen, warnen und wehklagen ins Leere, und selbst der Bär kennt sein Rollenfach, er bleibt berechenbar und sucht randalierend das Weite.
Wir folgen der schmalen, fast zugewachsenen Fahrspur im Gelände, bis hinter einer Kurve aus dem Nichts ein glanzloser Baukörper erscheint. Hinter dem verlassen wirkenden Firmengebäude sitzt mit bloßem Oberkörper ein einzelner Arbeiter und entschuppt einen Fisch. Seine fragenden Augen wandern von Gesicht zu Gesicht.
»Kostja!«, ruft Galina. »Hast du einen Fisch auch für uns? Oder zwei?«
Schweigend ergreift er einen langstieligen Kescher, führt uns zum Wehr und fischt, gegen die Strömung schaufelnd, zwei Ladungen blutjunger Lachse aus dem reißenden Wasser, kaum größer als Sprotten. Sergej bedankt sich zum Abschied mit einer Zwei-Liter-Plastikflasche Bier.
Wir dringen tiefer in das Gelände ein und steigen schließlich mitten in der Wildnis durch das Gestrüpp des Unterholzes einem Wasserfall entgegen. An den Stromschnellen, über den glatten Bahnen des Wassers, das nur an den Felsbuckeln kurz aufschäumt, dann aber rasant dem Abgrund zu stürzt, findet jeder einen Felsen, und wir sitzen, verteilt auf lauter schwach bemooste Brocken im Wasserlauf, und schweigen. Jelena hat die Hosenbeine aufgekrempelt und traut sich nicht weit. Kolja fotografiert sie von einem Stein in der Mitte des Stroms aus. Sie schaut die Kamera meerjungfräulich an, mich dagegen eher fragend, weiß Gott, warum. Sergej macht den Wildhüter, erklimmt einen Vorsprung und sucht das Buschwerk am Fluss mit den Augen nach Bären ab. Wir anderen balancieren direkt über der Stelle, an der die Fluten stürzen. Jelena erhebt die Stimme nur, um mit mütterlicher Inbrunst zu mahnen.
Später am Nachmittag werden wir tiefer in die Wildnis dringen, einen ausladenden, flachen See finden mit einem struppigen Gestade. Dort braten wir die Fischlein über offenem Feuer, essen Graubrot mit rotem Lachskaviar, Äpfel, Kekse, gefüllte Bonbons. Anschließend gehen die Männer schwimmen, die Frauen legen sich in die Wiese, und alle sind froh, dass nichts passiert, alles nur ist.
Im Wagen beginnen sie in den Abendstunden aus fünf Kehlen zu singen und sind sich im Gesang vollendet einig.
»Dieses Lied handelt von der Sehnsucht nach einem wahren Freund«,
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