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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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kündigt Nastja an und schickt ihre Stimme in die tiefen Lagen.
    Die Sehnsucht habe ich herausgehört.
    »Jetzt kommt das Lied von der schwarzen Katze, die nur denen Unglück bringt, die an sie glauben«, sagt Jelena. »Warte, ich will für dich singen.«
    Sie hebt mit dünner Stimme an, erholt sich aber und wird dann ganz kräftig. Alle anderen klatschen rhythmisch mit, auch Sergej am Steuer kann nicht an sich halten. So schnurgerade wie die Straße durch die Birkenwälder führt, kann man sie auch freihändig befahren. Er wählt den nächsten Titel und kündigt an:
    »Das ist das Lied von den Leuten, die am Montag geboren wurden, und nun den Montag abschaffen wollen, weil er ihnen Unglück bringt.«
    Im Refrain platzt der Reifen. Wir schlingern ins Kiesbett, im Bremsen verzieht die Spur, es riecht nach Gummi. Während der Regen leise nieselnd einsetzt, wechselt Kolja das Rad, Nastja raucht, Jelena schaut sich den Himmel an, als wolle sie darin verschwinden. Auf der unbefahrenen Straße schlendert sie langsam dahin, und nur manchmal schlenkert sie mit den Armen, um die Mücken wegzuwedeln.
    Sergej umkreist den Wagen mit fachmännischen Blicken, lässt sich dabei aber vom Erzählen nicht abhalten. Seine Geschichten sind einfach wie die aus dem »Decamerone«. Sie könnten Titel tragen wie: Als mich ein Freund zum Überholen aufforderte, ich es aber lieber sein ließ. – Wie ein Pfarrer einmal den Gottesdienst verschlief. – Wie die Kinder in der Schule pfuschen wollten, der Lehrer aber rechtzeitig die Aufgaben austauschte. – Wie mich meine erste Frau für einen Jüngeren verließ. – Wie man meine Tochter für die eines anderen Mannes hielt, weil sie so schön ist.
    »Du warst schon mal verheiratet, Sergej?«
    Er seufzt nicht ohne humoristische Theatralik: »Banditen sagen: Geld oder Leben. Frauen nehmen beides.«
    Als der neue Reifen sitzt, hat sich der Himmel verdunkelt. Heute sieht es aus, als käme Kamtschatka im Regen zu sich. Die Atmosphäre steigt vom Firmament nieder und legt sich über das Land.
    Jetzt passen sich auch die grauen Fassaden von Petropawlowsk dem Wetter an. Überall brennt Licht, die Auspuffschwaden gepanschten Diesels färben manchen Regenschleier bläulich. Die Sonne scheint wie aus der Tiefe eines Gobelins. Einen ganzen Tag lang dämmerte die Stadt und findet nun erst richtig zu sich. Als wäre sie für den hellen Sonnenschein nicht gemacht.
    Wir fahren über die Küstenstrecke in Petropawlowsk ein, als schon die Straßenbeleuchtung eingeschaltet ist. So wie sie jetzt da liegt, ist sie reizend, die Stadt. Deshalb kurbele ich die Scheibe herunter und rufe aus dem Fenster, phonetisch imitierend, was ich die anderen andernorts habe sagen hören:
    »Kakaia brijälist!«
    Alle lachen.
    »Was heißt das?«, will ich wissen.
    »Es heißt so viel wie: Welche Schönheit!«
    Dann ist es gut. Unter den Bäumen vor ihrem armseligen Haus verabschieden wir Kolja und Jelena. Ich erneuere das Zeremoniell:
    »Hättet ihr Lust, auch morgen wieder mit uns …«
    Jelena lächelt glühend, Kolja salutiert lässig und nickt.
    »Seltsames Paar«, sagt Nastja, als sie mich zum Hotel bringt. »Nach dreizehn Jahren immer noch so versessen.«
    »Außerdem ist sie eifersüchtig.«
    »Dabei ist er es, der Grund dazu hätte«, erwidert Nastja.
    Sie hatte nach dem Tod von Jelenas Eltern gefragt, einem bloß von Andeutungen umgebenen Unfall. Zurückgeblieben war Jelena allein, fern von Kolja in seinem exotischen Ostafrika. Und dann der Tod des Freundes. Welches Freundes? Es war regelrecht aus ihr herausgebrochen, sagte Nastja, unter Überdruck. Dieser Freund war ihr Trost gewesen in der Zeit, als man Kolja in Äthiopien stationiert hatte, ein mittelloser, ohne Eltern und Angehörige Lebender wie sie selbst, ein schwärmerischer Begleiter, ein Komplize, der zweite Mann in ihrem Leben – ein Liebhaber? Hatte sie sich verstrickt? Hatte sie ausbrechen wollen?
    Kolja war jedenfalls zurückgekehrt, die Ehe erwies sich als unerschütterlich, und der Freund hatte sich drei Monate nach der Wiederherstellung von Jelenas Ehe unter die lokale Eisenbahn geworfen. Ein paar Monate erst vor diesen Ferien war er kremiert worden.
    »Wusste Kolja …?«
    »Um Himmels willen, er hat den Freund ohnehin schon gehasst.«
    Den nächsten Tag beginnen wir schweigsamer. Kolja trägt wieder die Kapuzenjacke des nordamerikanischen Rappers, Jelena wieder ihr senffarbenes Leibchen mit den gestickten, ausgebesserten Applikationen. An der

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