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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Straße ein großes Gleiten von Birkenwäldern, Heidehügeln, grasigen Ebenen, und in den Tundra-Landstrichen Zirbelkiefern, alpine Mattenpflanzen.
    Die Natur erhält ihre Größe immer wieder durch das, was man nicht in ihr sieht: Die Landschaft, die sich aus der fernen Wildnis bis hierher streckt, die Zonen unbetretenen Landes, das sich bis zu diesem einen Fleck aufbaut, die Ausläufer, die abebbenden Hügel … Sie empfängt diese Größe selbst durch die lange Zeit, während derer sie in der Winterfinsternis wartet, um jetzt abrupt zu schwelgen, und durch die geduckt lebenden Menschen, die aus ihrem Bau kommen und sich für zwei warme Monate aufrichten. Streunende Hunde sind unterwegs und Rabenkrähen. Alle Bewegungen kommen aus dem Erwachen.
    Anders sind die Menschen, die hier ihr Kollektivschicksal teilen, anders als Dörfler und Städter anderswo, die in feinmaschigen Netzwerken Eingefangenen. Die Verständigungswege sind kurz. Die Menschen sagen sich nicht guten Tag, treten aber ohne Scheu aufeinander zu und reden drauflos, und da es wenig Informationsmöglichkeiten gibt, tauschen sie wie im Mittelalter Gerüchte aus, geben mündliche Berichte weiter, deuten, was sie sehen.
    Die Piroggen-Verkäuferin steht gut eingepackt in der kühlen Brise und sagt: »Die Reisenden, die jetzt vom Meer aus hier vorbeikommen, sind alle rot. Es muss heiß dort sein, jedenfalls muss die Sonne scheinen.«
    Unser Weg führt uns in eine andere Richtung. Einmal ist unter einem Hügel ein Tschum zu erkennen, das mit Baumrinde abgedeckte Zelt der Bewohner der Wildnis. Meist aber kommen wir nach stundenlanger Fahrt in Dörfer, die nicht minder isoliert daliegen, Siedlungen aus drei Mietwohnblocks und ein paar halb improvisierten Hüttchen samt Gärtchen. Wir tauchen in den Blick von Menschen, die in die Fassaden eingelassen scheinen, wie die auf den Fensterbänken liegenden rauchenden Männer mit dem nackten Oberkörper oder dem weißen Trägerunterhemd. In meiner Jugend gab es sie noch überall. Inzwischen haben sie sich offenbar ganz nach Russland zurückgezogen.
    Über die wenigen Dorfstraßen holpern angerostete Kradräder mit Beiwagen, ihre Sitze aber sind pompös mit Bärenfell ausgelegt. Manchmal malen die Anwohner einen einzelnen Hauseingang bunt an. Dort ist dann der örtliche Kaufmannsladen zu Hause. Manchmal malen sie auch einen Fries Blumen auf die Fensterbank, aber echte Blumen finden ihren Weg nicht bis hierher. Viele Häuser wurden schon aufgegeben, viele Fenster vernagelt, andere mit Plastikfolie verklebt. Das Gras steht oft bis zur halben Höhe des Erdgeschosses. Ringsum strecken sich riesige Flächen Brache.
    Ein paar zockelnde Alte schleppen in Plastiktüten Zwei-Liter-Flaschen Bier vorbei. Die meisten Männer tragen Military-Look, weil solche Kleider billig und haltbar sind und keinen sozialen Status markieren. Die älteren Männer treten auch schon mal im Bademantel auf die Straße. Alle wirken wie eingeschlossen in der Fläche.
    In einem der beiden hiesigen Läden gibt es keinen Zucker, im nächsten bekommt man ihn lose, in einem kleinen Zellophantütchen. In der Ferne singt eine Motorsäge. Die Bewohner dieses Fleckens im Nirgendwo haben alle Wintergesichter, selbst im Sommer. Die Wäsche wird an die rückwärtige Außenwand gehängt, davor spielen die Kinder Fußball. Hinten verlaufen sich mit dunklen Fassaden die alten Holzhäuser. Sie sind wie Schreberhäuschen konstruiert, stehen aber so ansehnlich und gepflegt wie Dämchen da, die auf sich halten. Ein Pferd grast an der Straße, ein anderes trabt für sich allein auf und davon.
    Zwei Frauen sitzen auf dem Balkon und betrachten uns. Von der Straße hinauf rufend, beginne ich ein Gespräch:
    »Wie viele sind Sie hier noch?«
    »Nicht mal tausend.«
    »Der Winter ist zu lang, oder?«
    »Neun Monate.«
    »Und wie halten Sie die Kälte aus?«
    »Wir verkleben die Fugen. Dauernd kleben wir. Wenn jemand etwas Geld hat, kauft er sich so moderne europäische Plastikfenster wie die da« – sie weisen zum Nachbarhaus.
    »Warum bestellt ihr das Land nicht?«
    »Wer Land hat, macht das, aber die meisten haben kein Land.«
    »Und wovon lebt ihr?«
    »Die meisten vom Fischfang im Fluss.«
    »Unglaublich!«
    Sie lachen heiser. Ihr Leben ist in der Tat, was sie dem Alkohol abringen können, ein Überleben auf einem kaum lebenswerten Flecken, dem ihren.
    Später entdecken wir am Kiosk eine handgemalte Einladung zu einem Abend »Nur für Erwachsene«. Wie gerne wären wir

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