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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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dabei, wenn sich die fahrende Varietékünstlerin aus dem Zobel schält! Es gibt auch ein falsch befestigtes Verkehrsschild an der Straße, auf dem ein Mann kopfüber am Zebrastreifen hängt. Den Mann könnte es hier irgendwo geben, aber einen Zebrastreifen? In einem Fenster lehnt ein selbstgemaltes, sonnenverbranntes Bild auf Holz. Es zeigt eine nackte Frau mit Hund auf dem
    Schoß. Darunter blüht hoch der Rittersporn in ganzen Kolonien.
    Am Rand eines ehemaligen Getreidefelds wollen wir unser Picknick aufbauen. Doch gleich verdunkeln die Mücken die Luft, und wir fliehen vor dem aggressiven Geschwader mit dem Sound einer singenden Säge zurück in den kleinen Ort, stellen auf der Grünfläche direkt neben der Weggabelung unser Tischchen mit fünf Stühlen auf, breiten auf der Decke Weißbrot, Gurken, Tomaten, roten Kaviar, Kwass, Meereskohlsalat, getrocknete Schollen, russische Bonbons und Kekse aus und bilden so das seltsame Bild der dekadenten Städter, die kommen, um am elendsten Ort zu tafeln, bestaunt von den fassungslos aus den Fenstern Lehnenden.
    Sergej erklärt uns die Stämme der Ureinwohner mit besonderer Berücksichtigung der, wie er sagt, grobschlächtigen, schwerknochigen, triebhaften Frauen, und er schließt:
    »Wenn man keinen Sex mit einer Korjakin gemacht hat, hat man Kamtschatka nicht gesehen.«
    Alle hängen ihren Vorstellungen nach.
    Jelena fragt, ob wir in Deutschland auch Pilze in unseren Wäldern haben.
    »O ja, und im Herbst bin ich immer in die Wälder gegangen und habe sie gesammelt.«
    Sie reicht mir strahlend ihre raue Hand:
    »Habt ihr auch den Weißpilz mit dem breiten weißen Stamm und dem großen braunen Hut?«
    »Nein, den haben wir nicht. Wir haben den Birkenpilz.«
    »Aber beim Weißpilz bleibt der Stamm selbst nach dem Kochen weiß. Und trinkt ihr auch Weidenröschentee?«
    »Nein, das nicht.«
    »Bei uns werden selbst die Baumpilze zu Tee verarbeitet.«
    »Das kennen wir nicht.«
    Wir verabreden, dass ich eines Tages in ihre Garnisonsstadt im Norden Russlands reisen werde, dass sie in der kleinen Küche ihren Kuchen backen, für mich kochen, dass wir den Weißpilz suchen werden und dass …
    »Dieser See heißt ›Der tote See‹«, sagt Sergej und zeigt aus dem Fenster.
    »Warum?«
    »Weil man nie jemanden in ihm baden sieht.«
    »Und warum ist das so?«
    »Weil er ›der tote See‹ heißt.«
    Kolja legt trotzdem die Kleider ab und flieht vor dem nächsten Mückenschwarm in das flache Wasser. Sergej hält dabei nach Bären Ausschau, und ich schließe zu Kolja auf. Wortlos schwimmen wir nebeneinander hinaus in den kalten See, in dessen brauner Oberfläche sich der Bergkamm spiegelt, während sich auf der anderen Seite die Matten in großzügigem Schwung zwischen den Hügeln verlieren. Sergej stimmt am Ufer ein russisches Lied an, die Frauen fallen ein. Nach hundert Metern entscheidet Kolja, dass Weiterschwimmen zu gefährlich wäre. Er duldet keine Widerrede. Wie der Hausherr des Landes legt er fest, dass wir jetzt umkehren müssten, und anschließend, dass dies kein Gewässer für Frauen sei. Jelena zieht Hose und Bluse wieder an.
    »Ein Mann fragt einen Japaner«, beginnt Sergej im Wagen, »was magst du an Russland? Er erwidert: die Kinder. Und sonst?, fragt der Russe. Die Kinder. Aber du musst doch noch etwas anderes mögen! Nein, sagt der Japaner, alles, was die Russen mit den Händen machen, geht schief.«
    Jelena lacht ihr gutmütiges, eingeweihtes Lachen. Es kippt aber gleich, als sie an die eigenen beiden Kinder denkt.
    Am Abend stehen wir zu viert vor der großen Indifferenz des Meeres. Da liegen drei von Möwenkack bedeckte Felsen vor der Brandung, die Wellen schieben ihre Schaumkronen geordnet auf den Lavasand. Steine, Muscheln, Hölzer, Strandgut gibt es nicht, der Himmel ballt ein paar Wolken nur aus dekorativen Gründen, er meint es nicht ernst. Die Bucht ist lang und ohne Schwung, eine große Waagerechte, die sich erst an ihren fernen Ausläufern krümmt. Wir haben zwei Vulkane und einen breiten Streifen aus Halbstauden und Zwergkiefern, dazu das Blütenmeer der gemischten Wiese im Rücken. Jelena krempelt ihre Hosenbeine hoch bis zum Knie und sagt, bevor sie die ersten Schritte in die Auslaufzone der Wellen tut:
    »So schön habe ich das Meer noch nie gesehen!«
    Immer noch vibriert ihre Stimmung zwischen Überschwang und feierlicher, introvertierter Begeisterung. Dann reißt sie sich los und läuft. Jetzt ist sie schön. Jetzt jauchzt sie, und es klingt wie

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