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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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zum ersten Mal nach langer Zeit.
    Am Ende wird ihr Mann sie vom Wasser, wo sie ihre Füße vom Vulkansand reinigte, huckepack zum Wagen tragen, damit ihre Füße nicht wieder schmutzig werden, ihre kleinen speckigen Füße. Es tut ihr, der Mutter, sichtbar gut, mal eben wie ein Kind behandelt zu werden.
    An den Abenden fragen wir nun nicht mehr, ob die beiden anderntags mit uns reisen wollen, wir fragen nur noch, wann wir sie abholen sollen. Am letzten Morgen trägt Jelena einen Korb am Arm. In der Nacht hat sie Piroggen und Fleischbällchen gekocht und gesalzene Teigwaren dazu gebacken. Alles, was sie auftreiben konnte, muss sie verarbeitet haben, und als ich mich zur Begrüßung zu ihr hinunterbeuge, inhaliere ich zum Küchengeruch erstmalig ein hauchfeines, seifiges Parfüm.
    Gegen Mittag stapfen wir in die monströse Szenerie des Awatscha hinein, über die geronnenen Schlammlawinen, in das erkaltete Lavabett des 2001 zuletzt ausgebrochenen Bergs. In seiner ersten Eruption spie er zunächst Asche, dann Lava. Die Asche erkaltete zu Tuff, die Lava zu Basalt. Ein unbehaustes Tal voller Gesteinsbrocken liegt vor uns, porös erfrorene Massen, gesäumt vom begrünten Hang, besetzt mit Flechten, Saxifragen, Krüppelkiefern, erfüllt vom hohen Zirpen der Vögel und Insekten. Ein Wolkenband hat sich oben über den Hang gelegt, die schmuddeligen Schneefelder wirken wie von den schmutzigen Wolken eingesaut – ein Anblick wie vor der Erschaffung der Natur.
    Kolja ist mit seinem festen Schuhwerk und dem Gang des gebirgserprobten Marschierers tief in die Schlackefelder eingedrungen. Mal kauert er unten im Tal lange über einer Pflanze, mal filmt er den Gesteinsfluss, dann wieder verschwindet er hinter den gewaltigen Brocken, die am Rande des alten Flussbetts zur Ruhe gekommen sind.
    Wir stehen gerade allein, als Jelena meinen Unterarm berührt. Ihr Blick hat sich von innen verdunkelt, er insistiert, als wolle er jetzt, in diesem Moment, unbedingt wortlos verstanden werden. Zum ersten Mal ist da etwas Verschworenes, zugleich Dringliches in ihren Augen, und während ich diesen Blick noch fragend festhalte, zieht sie einen Briefumschlag aus der Tasche. Verstehe. Ich werde ihn nehmen, niemandem etwas sagen, werde zu Hause einen Exilrussen finden, der ihn mir übersetzt, werde antworten, und den Ernst meiner Antwort mit einer Erwähnung des Weißpilzes aufhellen.
    Sie aber zieht den Umschlag gleich wieder zurück und birgt ihn, wo er war, in der inneren Jackentasche. Nur ist das Inständige aus ihrem Blick nicht gewichen, ihm folge ich.
    »Idi sjuda«, sagt sie auf Russisch, und ich verstehe »komm«.
    Wir balancieren hintereinander durch ein Geröllfeld. Nastja raucht auf einem Felsen, tief versunken in eine von Sergejs Geschichten. Kolja ist kaum mehr zu sehen, so weit hat er sich in das erkaltete Flussbett gewagt, und so steigen wir zum Sirren des Windes, zum Klickern des Gerölls, zum Zirpen einzelner Vogelstimmen aufwärts, einem Nebenkrater entgegen, der mit wetterwendischen Fumarole-Wölkchen Rauchzeichen gibt.
    Dieses Mal folge ich Jelenas Schritten, erfasst von ihrer Zielstrebigkeit und immer noch im Bann eines Blickes, der wie ein Versprechen war. In der unmittelbaren Nähe des schweflig dampfenden Nebenkraters mit seinen Quellen und Geysiren wuchern Grünalgen und der niedrige Schachtelhalm. Trifft uns das Wölkchen aus dem Schwefelgrund, wehren wir uns mit vor dem Mund wedelnden Händen, flach hustend. Es ist eine Mulde bloß, ein beige-gelb blubbernder Erdtopf, an dessen Rand Jelena kauert, während das Rauchfähnchen sich dreht. Zum zweiten Mal greift sie nach mir, dieses Mal mit ihrer Hand meine heranziehend, und ich hocke mich neben sie, während sie, halb flüsternd, sehr schnell ein paar russische Verse deklamiert, etwas Formelles oder Liturgisches. Ich verstehe nicht. Das taubstumme Pärchen auf der Straße von Petropawlowsk fällt mir ein.
    Ihre Augen suchen die meinen nur kurz. Etwas Frenetisches ist jetzt in diesem Blick, der mich nicht meint. Dann legt sie sich den Zeigefinger auf die halb geöffneten Lippen, zieht wieder den Umschlag hervor, reißt ihn der Schmalseite nach auf. Eine hauchzarte grau-braune Fahne Asche schwebt in den Wind, wird in den kleinen Krater, aber zum guten Teil darüber hinaus getragen, über den Schachtelhalm und die Algen hinweg und hat sich zerstäubt. Jelena knickt den Umschlag zweimal und steckt ihn wieder ein. Zuletzt faltet sie die Hände, ein Gebet hineinflüsternd, und alles

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