Die Enden der Welt
ist vorbei. Das beißende Schwefelwölkchen scheucht uns vor sich her. Abwärts steigen wir, und wo der Staub auf den Gräsern liegt, denken wir wohl beide an den Weg, den die Asche nahm, auch sie nur ein Hauch. Dann wiederholt Jelena ihre Geste und führt den Zeigefinger zum zweiten Mal an den geschlossenen Mund.
Als wir wieder zu den anderen stoßen, breitet sie dem ahnungslosen Kolja gleich ihre Arme aus und lässt ihn eintauchen. Er tut es mit jungenhafter Unreife und hält für Augenblicke zwischen seinen Lippen ihr dickes Ohrläppchen fest. Sie klopft ihm begütigend dazu auf den Rücken.
Unseren letzten Abend verbringen wir in der unbenutzt wirkenden Anlage eines Hotel-Freibads, dessen Becken gerade durch einen Schlauch mit schwefligem Thermalwasser befüllt wird. Kurzatmig lagern wir im Wasser. Kolja taucht mit Kopfsprung ins Becken, Jelena zieht sich einen schwarzen Bikini an und drückt ihren stämmigen Körper rasch unter die milchige Wasseroberfläche, während Sergej den allgemeinen Frohsinn unermüdlich weiter stimuliert. Wir trinken Bier aus Plastikbechern und toben ein bisschen herum. Einmal drückt Jelena unter Wasser meine Hand.
Musik wird eingeschaltet. Es gibt viele Instrumente, die furchtbar sind in ihrer Fröhlichkeit. Das Akkordeon führt sie an, dann folgt das hüpfende Geigen-Tutti. Der Abend ist voller Akkordeon und Happy Sound. Später gesellen sich noch ein paar russische Oligarchen zu uns, fett sind sie, aber stark, haben Plastiktüten voller Alkoholika und zwei hübsche, nichtsnutzige Frauen bei sich, die sich wie die Ausziehmädchen am Poolrand räkeln und füreinander posieren. Als dann drei weitere Geschäftsmänner dazukommen, alle mit weißen Frotteetüchern um die Hüften und mit dem Handy telefonierend, während sie im warmen Wasser stehen, entschließen wir uns zum Aufbruch.
Unter den buschigen Bäumen vor der armseligen Siedlung, die sie bewohnen, holen wir zur Verabschiedung von Jelena und Kolja aus. Wir stehen um den Wagen, die Männer umarmen sich fast ohne Körperkontakt. Als ich Jelena die Arme öffne, kommt sie, von einem leichten Sonnenbrand vergoldet, und drückt sich rückhaltlos in diese Umarmung, als wolle sie so, als Passform, erhalten bleiben. Dann wendet sie sich Nastja zu, damit sie übersetze:
»Wir haben eine Zeit mit vielen schwarzen Streifen erlebt. Nie hätten wir gedacht, dass uns hier ein so weißer Streifen erwartet.«
Darauf schenkt sie mir noch einmal ihren gedrungenen Körper, von dem sie weiß, dass man ihn gerne in den Arm nimmt, und lässt ihn ruhen. Kolja ist ins Haus gegangen, um Geschenke zu holen.
»Du wirst mir fehlen«, sage ich.
Als ich im nächtlichen Hotelzimmer die Geschenke öffne, sind es ein Wimpel von Koljas U-Boot-Stützpunkt, ein grünmetalliger Schlüsselanhänger mit dem Emblem desselben, dazu eine blau-weiß-geringelte ärmellose Weste. Sie passt, sieht aber aus wie ein Ringer-Leibchen aus einem Badeort an der Côte d’Azur der zwanziger Jahre. Das ist ihr Geschenk. Ich trage es eine Nacht lang und eine weitere, bis es sich unwiederbringlich anfühlt. Ja, sie fehlt mir.
Mandalay
Ein Traum vom Meer
Aufgewachsen bin ich in jener Hügellandschaft, die man geographisch die Voreifel nennt, Liebhaber bezeichnen sie auch als »Rheinische Toskana«. Doch das ist schon keine Beschönigung mehr, sondern eine Irreführung. Unser damals noch weitgehend bäuerlich lebendes Dorf trägt den Namen Oedekoven, was man, wie mir der Bürgermeister einmal erläuterte, nicht so offensichtlich ableiten darf, wie es scheint, sondern vielmehr auf den germanischen Gott Odin zurückführen soll. Der rastete, wie Götter es manchmal tun, angeblich in einem nahen Gehölz.
Dieses lag unweit unseres Hauses, und an einer Stelle sah man von einem Kiesweg aus, der den Mischwald teilte und in einen Wiesengrund führte, durch den schütteren Baumbestand in das Tal mit seinen dem nahen Bonn vorgelagerten Dörfern und Ministerialsiedlungen. Als ich etwa siebenjährig einmal in der ersten Morgenfrühe mit meiner Mutter über diesen Kiesweg in die Senke einbog, lag der Frühnebel so dicht über dem Tal, dass ich unwillkürlich dachte, man habe mir die ganze Wahrheit über meine Heimat unterschlagen, und ich greinte:
»Warum habt ihr mir verschwiegen, dass wir am Meer wohnen?«
Ich glaubte damals an eine besondere Wirkung des Meers. Dort müsste das Leben ein anderes sein, von den Städten abgewandt, durch den dauernden Anblick des Wassers geklärt. Als ich
Weitere Kostenlose Bücher