Die Enden der Welt
nützen. Er sagt es nicht. Sein Blick sagt es. Mein Ochsenkarren ist jetzt weg, aber die Steppe dampft warm und grau. Man stopft sich die in ein Blatt gewickelten Splitter der Betelnuss in die Backe, sabbert und geht zu Fuß. Jedes Runterschlucken wärmt den Bauch, jedes berauscht ein kleines bisschen mehr. Feuerrot wird ausgespuckt, das Sputum perlt auf den Blättern, verläuft sich im Sand.
Den Alten verfaulen nach lebenslangem Betelnuss-Abusus die Zähne im Mund. Aber der Konsum betäubt den Hunger, und das wird bisweilen wichtig sein, nicht allein der Armut wegen, sondern auch, weil Birma, wie George Orwell befand, die seltene Gabe besitzt, jede bekömmliche Speise in eine ungenießbare zu verwandeln: Das Fleisch kommt mit grünlichem Pelz auf den Tisch, aus dem Gemüsematsch riecht es nach Krokussen und Tümpeln, die Einsprengsel im Reis sind Insekten, und vom Nachbartisch schielen Funktionäre in Zivil herüber, damit niemand zu vertraut mit den Einheimischen werde.
Wer um fünf Uhr morgens aufsteht, kann den Goldwäschern am Fluss zusehen, wie sie die Köpfe über den Schüsseln zusammenstecken, während die kleinen Mädchen die Ochsen im Wasser bürsten. Aber noch klingt das Schnaufen und Rufen gedämpft. Über den Büschen wacht von den Hängen das perlweiße Gesicht eines steinernen Götzen, halb Faun, halb Greif, und dahinter, in dem alten, hölzernen Klosterbau, wandeln, orange und rostrot hingetuscht, die barfüßigen Mönche. Während sie ihr Klingeln und Beten aufnehmen oder schweigend heilige Schriften studieren, steckt sich die junge Lastwagenfahrerin unten an der Straße eine dicke, grüne Zigarre in den Mund und lächelt den ersten Fahrgast an mit dem strahlenden Betelnuss-Rot ihrer Zähne. O happy day!
Birma lebte zu lange mit dem Rücken zur Welt, als dass seine Menschen schon wissen könnten, wie verwahrlost, wie fadenscheinig gebildet, wie überrumpelt wir dieses Land betreten. Seine Verkehrsmittel sind beschwerlich, seine Unterkünfte ärmlich, seine Restaurants bedenklich, aber dann gibt es in der Hauptstadt Rangun das »Strand«, diesen prachtvollen Hotelbau aus der Kolonialzeit, ebenbürtig seinen beiden Geschwistern »Oriental« in Bangkok und »Raffles« in Singapur, es gibt Zimmerfluchten in dunklem Holz mit alten Armaturen, blutroten Stoffen, Lounges, in denen das Aroma aus hundert Jahren Spionage und Geheimdiplomatie hängt und die Erinnerung an Panamahüte. Am liebsten sind mir Hotels, deren Geschichte man noch bewohnen kann. So ist das »Strand«.
Als ich dort eintraf, gab es kein Einzelzimmer mehr, also teilte ich mir ein Doppelzimmer mit einer alleinreisenden Britin namens Belinda. Unser Zimmer, mit seinen roten Stoffen und dunklen Möbeln eher eine Zimmerflucht, war so weitläufig, dass wir uns kaum hätten begegnen müssen. Sie trat ein, fand das alles zu groß und drückend und schloss als Erstes die Vorhänge, als gelte es, unseren Besitz vor den Blicken Fremder zu schützen.
»Gehen wir essen?«
Wir setzten uns in den weitläufigen Speisesaal des »Strand« mit seinen umlaufenden Holzvertäfelungen, seinen kolonialen Erinnerungsstücken, seinen aus der Vergangenheit geretteten Ritualen. Der Kellner schob ihr den Stuhl in die Kniekehlen, sie quittierte es mit Genugtuung.
Als Gesprächseröffnung wählte sie »die Armut da draußen«, die sie »bedrückend« fand. Ich wählte die Rochade:
»Aber gut anzusehen«, sagte ich.
»Zyniker!«
Ich erklärte, das Bedauern über die elenden Lebensbedingungen der meisten Menschen auf der Welt sei das eine, das andere aber sei, dass so mancher Reisende wohl enttäuscht wäre, wenn er an seinem Reiseziel ohne Bilder der Armut auskommen müsste. Sie schaute indigniert, dann erwiderte sie spitz:
»Du hast bestimmt einen höheren Standpunkt, aber mich macht der Anblick der Armut nur traurig.«
Ich legte nach mit der These, weniges mache ein Land so vielfältig, so reich fürs Auge, so barock wie die Armut. Sie ließ dem Gedanken eine Schamfrist. Dann rückte sie sicherheitshalber von ihm ab und schaute nur indigniert.
»Glaubst du nicht, dass das Gefühl der Überlegenheit das Wohlbefinden steigert?«, fragte ich.
Sie überging das als nicht verwertbar.
»Diese Länder sind so weit weg«, sagte sie, »und innerlich ist es noch weiter. Wir haben ja eben erst die Tür aufgemacht, zu diesen Leuten, die so freundlich sind, zu ihrer Kultur, ihrem Essen …«
Sie sagt das mit strengen Augen, jeden Satz mit Nachdruck herausschickend,
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