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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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bis es nicht alle Winkel des Gesichts durchflutet hat. Man kann nicht aufhören, sie anzusehen.
    Als sie mir die Hand gibt, bleibt die Hand wie eine abgelegte Ware, weich und nachgiebig, in der meinen liegen. Das Wachstum der Fingernägel hat das letzte Rot bis über die Mitte des Nagels transportiert. Wenn sie nickt oder der Zug schaukelt, gibt es eine leichte Auf-und-ab-Bewegung der Gesichtsmasse. Nur ihre Augen erröten.
    »Wo fahren Sie hin?«, frage ich.
    »Nach Hause«, sagt der Mann, »in den Krieg.«
    »Welcher Krieg?«, frage ich und denke an die Sequenz aus »Masculin-Feminin«, als Jean-Luc Godard »Miss 19  Jahre« fragt, wo auf der Welt gerade Krieg geführt werde, und sie muss passen.
    »An der Grenze zwischen Birma und China wird schon seit vielen Jahrzehnten Krieg geführt«, sagt er. »Aber wir sind dort unter uns, und so weiß man es nicht.«
    »Wer seid ihr?«
    »Wir gehören zum Volk der Kachin.«
    »Worum wird der Krieg geführt?«
    Er zählt es an den Fingern auf: »Früher gegen die Engländer, dann gegen die Chinesen, dann mit den Chinesen gegen die Regierung Birmas, dann gegen die Armee, dann gegen Rebellenführer Fürst Khun Sa, dann gegen die Regierung für unsere Unabhängigkeit …«
    Sein Finger bleibt in der Luft über der Abzählhand schweben …
    »Und fertig«, bindet Mariam ab und lacht.
    Fürst Khun Sa war mir zuletzt auf einem Illustriertenfoto begegnet. Stolz hatte sich der Drogenfürst des Nordens im Kreise der eigenen Armee gezeigt, ein Halbchinese, der ehemals Offizier der nationalchinesischen Armee gewesen war und über Jahrzehnte den Opiumhandel im »Goldenen Dreieck« von Birma, Thailand, Laos organisierte. 1994 wurde sein Hauptquartier gestürmt und der Handel neu geregelt. Einen Auslieferungsantrag der USA lehnte die Regierung von Birma ab. Khun Sa zog sich ins Edelsteingeschäft zurück und lebte noch ein gutes Jahrzehnt gut geschützt in Rangun.
    Ja, der Krieg wohnt hartnäckig, wo auch Khin Maung und Mariam wohnen. Sie sind Buchbinder, und ihren kleinen Betrieb führen sie gemeinsam. Wir werden lange fahren, und sie nutzen die Zeit, mir ihre Lage zu erklären, wobei Mariam nicht weniger spricht als ihr Mann, und ebenso stolz fasst sie zusammen: Schon die Briten hatten es nirgends so schwer mit der Kolonialisierung wie in Nordbirma. Wenn man von »Kachin« spricht, so ist dies ein Sammelname für diverse ethnische Gruppierungen, die Lashi, die Lisu, die Maru und Rawang. Die Kachin, die auch in China und Indien lebten, ließen sich evangelisieren, um sich von den heimischen, dem Buddhismus anhängenden Birmanen abzugrenzen. Während früher hier die »Communist Party of Burma« treu für eine größere Annnäherung an den chinesischen Nachbarn im Norden gekämpft hatte, kämpften die Kachin in Birma bis zum November 1993 mit ihrer »Kachin Independent Army« gegen die Regierung, und noch heute dauert der bewaffnete Kampf für die Unabhängigkeit ihrer Provinz und der gegen Schmuggler von Opium und Edelsteinen an.
    Khin Maung und Mariam wohnen in einem Dorf nördlich von Myitkyina, im verbotenen, für Fremde gesperrten Distrikt, nicht weit von der Grenze zu China. Myitkyina ist ein Zentrum, wo Gold, Jade und Bernstein gewonnen werden, aber auch die Wanderfeldbauern kommen hierher auf die Märkte, und die hiesigen Kachins sind immer noch in Stämmen unter Häuptlingen organisiert. Die Eisenbahn endet hier, aber die Straße führt immer weiter bis nach Indien und China.
    Mariam macht sich den unsteten Truthahn mit einem Griff an seinen Hals gefügig. Khin Maung hält einen Leinensack Zucker zwischen seinen Knien. Zu Hunderten nehmen die Fliegen darauf Platz. Draußen breitet sich schwarze Erde aus, die Glockenkelche der Pagoden leuchten in Weiß oder Gold, und wenn die Menschen eine Errungenschaft gemacht haben, dann sind es Schirmmützen. Es riecht nach Hirse und fauligem Gemüse. Aber das Lachen sitzt locker.
    Über die Wasserspiegel morastiger Teiche staksen die Hütten dahin auf morschen Balken. Man sieht den Seuchen in der Entstehung zu, und da die Fenster offen bleiben, schwärmen an jeder Haltestelle des Zuges die Insekten herein, trunken vom Fäulnisgeruch. Mariam hält ein leeres westliches Parfümfläschchen an die Nase, das Geschenk einer Touristin. Kleine Pferde sprengen außer Atem durch eine Allee. Tätowierte Jugendliche in traditionellen Röcken stoßen den Rauch ihrer grünen Zigarren in Wolken aus, Männer in karierten Sarongs kauern untätig vor blau

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