Die Enden der Welt
versuchte daraufhin, den Inhalt der Schrift zu retten, weichte den Reis ein und trank das Wasser.« Khin Maung strahlt, als er an dieser Stelle der Erzählung glücklich angelangt ist. »Und deshalb trinken die weisen Priester noch heute Reisschnaps, bevor sie zu ihren Prophezeiungen schreiten, und bringen sich so in den Besitz der Weisheit. Wohlsein!«
Mandalay, die rebellische, der Moderne zugewandte Siedlung, deutete sich draußen mit den ersten Ausläufern einer werdenden Millionenstadt an, die sich aus ihrer dörflichen Vergangenheit nicht lösen kann. Die Hüttchen verlaufen sich in der zersiedelten Ebene am Ufer der Irrawaddy, die man auch »die Erquickende« nennt. Westliche Sachen werden in die Stadt geschwemmt wie die lila Häkelmütze für den Greis, der Comic, das Fahrrad mit Stützrädern, die Munddusche. Doch auch die Ochsenkarren schleppen sich noch über die Straße, gemeinsam mit den alten Treckern, den Fuhrwerken und Rikschas, den unschnittigen Automobilen aus China.
Wir tauschen die letzten Fragen und Antworten. Über die Grenzen dieser Stadt hinaus darf ich nicht reisen, und Khin Maung und Mariam werden in ihrer roten Tracht hier sitzenbleiben, mit Sack und Truthahn zwischen den Knien, mit den wunderlichen Speisen, die sie aus den Zeitungsblättern wickeln, und den entflammten Augen, die nach allem Ausschau halten, was kommt.
»Warum seid ihr rot gekleidet?«
Khin Maung wird ernst, denn ist er auch Christ wie die meisten Kachin, so möchte er doch dafür Buddha und die Geister des Animismus nicht missen, und diese Vielgötterei hat jedenfalls seinem Glauben keinen Abbruch getan. Christus und Buddha sind gemeinsam für das Jenseits verantwortlich, findet er, die Geister dagegen wirken vor allem ins Diesseits. Deshalb gehen er und Mariam auch bisweilen zu den Geisterschwestern, Halbwesen, die als Medium fungieren.
»Das Rot steht für das Blut der Erde, für die Seelenwanderung, die uns bevorsteht.«
»Also für das Wasser?«
»Das Wasser ist für uns Wiedergeburt, die wichtigste Größe im Kreislauf des Lebens.«
Und Mariam ergänzt: »Lange beschwören wir den Himmel, damit Indra, der Kriegs- und Donnergott, mit diamantenem Donnerkeil die Monsunwolken spaltet und ihnen den Regen entlockt.«
Ihre Reise zum Meer war also eher eine Wallfahrt denn ein Ausflug. Sie haben erst in der Shwedagon-Pagode beten, dann zum Meer reisen und an den Ozean treten wollen. Doch dann kommt eine Macht dazwischen, die nicht Gott ist und nicht Natur und doch so wirksam wie sie beide: die Staatsgewalt. Sie wird uns nur die Freiheit lassen, in der Holzklasse eines Zuges beieinander zu sitzen und die Versäumnisse und Verhinderungen zu überbrücken: Sie werden das Meer nicht sehen und ich nicht ihr Dorf.
Mandalay ist der Ort, an dem wir uns in einer unbeholfenen Umarmung trennen. Sie werden diese eine Umarmung nachstellen, die sie aus Filmen kennen, und ich werde nicht wissen, wie viel Körper man ergreifen darf, wenn man die Frau eines birmanesischen Kachin-Buchbinders in die Arme nimmt oder besser, wenn man sie an ihren runden Schultern bloß ein paar Zentimeter an sich zieht. Wir umarmen uns also, hier, an diesem Schnittpunkt zweier undurchlässiger Grenzen. Jeder von uns verschwindet hinter einer Wand, die für den Zurückbleibenden undurchdringlich ist.
Ich wünschte, wir hätten das Selbstverständliche tun, am Meer stehen, in ihr Dorf reisen, bleiben können, doch dieses Mal ist unsere Trennung nicht kulturell bedingt, sondern politisch. Ich habe nicht vermocht, ihnen das Meer, das sie nie sahen, erfahrbar zu machen. Mein Meer ist ein anderes, und ihr Dorf suche ich in ihren Augen, in der Textur ihrer Hände, in ihren Blicken nacheinander, ihren Stoffen und Utensilien, doch suche ich vergeblich.
Deshalb hängen unsere Blicke ineinander, weil wir nichts anderes haben, die Wirklichkeit des Gegenübers zu entziffern, und diese Blicke wollen und wollen sich nicht lösen, als ich am Bahngleis in Mandalay vor dem Abteilfenster stehe und sich der Zug mit ihnen in Bewegung setzt, sie haben die Hände nur halbhoch zum Gruß erhoben. Sein Glühen bleibt, ihr Strahlen hängt weiter in der Luft, und als sie den Augen entschwunden sind, ist da noch etwas Immaterielles auf diesem Bahnsteig, das ich betrachte wie Kunst. Es ist der Nimbus einer Grenze, die sich soeben als unpassierbar, aber durchlässig erwiesen hat.
Der Fuciner See
Die Auszehrung
Um die Mitte der achtziger Jahre arbeitete in der Wiener
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