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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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sitzen wie gespiegelt da zwischen ihrem hässlichen Truthahn und ihrem Sack Zucker und wollen das Meer nicht als Gleichnis akzeptieren. Ist ihre Liebe ein Seestück nach Art des Claude Lorrain? Ist es das, was ich sehen soll?
    Ich erzähle ihnen, wie gegen Ende des 19 . Jahrhunderts der Dichter Franz Grillparzer an die Adria reiste, um zum ersten Mal das Meer zu sehen, das er nicht fotografiert oder gefilmt kennen konnte. Ich berichte, wie wir Leser den Atem anhalten, tritt doch hier ein Dichter, ein Mann des Wortes, zum ersten Mal in seinem Leben vor das Original des Ozeans, und was schreibt er in sein Tagebuch: »So hatte ich’s mir nicht gedacht.«
    Khin Maung blickt fröhlich aus dem Fenster. Die Geschichte sagt ihm nichts, aber wir reisen, wir reden, wir teilen.
    »Wie ist euer Meer?«, will er wissen.
    »Wir haben zwei kleine«, sage ich. »Sie meinen es gut.«
    »Und wie sehen sie aus?«
    »Manchmal bloß wie Nebel in einem Tal.«
    Die Freundlichkeit verlässt sein Gesicht nie, und das schon deshalb, weil, so seltsam auch klingen mag, was ich sage, ich es bin, der es beglaubigt, der Fremde, und so nickt er seiner Frau manchmal bestätigend zu wie ein Moderator. Sie soll unser Einverständnis teilen. Das tut sie, und wenn eine Gruppe Mönche am Bahndamm entlanggeht, sagt sie schon mal: »Mönche«, und wenn es Büffel sind: »Büffel«. Das reicht uns für eine vollkommene, glückliche Kommunikation.
    »Wo werdet ihr ankommen?«, frage ich. »Was ist das für ein Dorf, in dem ihr lebt?«
    »Das ist nicht der Rede wert«, meint Khin Maung. »Es ist ja ganz klein.«
    Vom Zug aus kann man erkennen: Die Armen haben Bambushütten, die dem Monsun nicht standhalten, die Reichen wohnen in Teakhäusern. Strom besitzen die wenigsten Dörfer, und Khin Maung erklärt, stundenlange Märsche zu den Märkten böten oft die einzige Einnahmequelle.
    »Aber lebt ihr denn in Häusern, in Hütten?«
    »Wir leben im Krieg«, sagt Khin Maung wieder.
    Aus dem Waggonfenster blicken wir auf Dörfer, deren Armut einen idyllischen Ausdruck angenommen hat. Ob das Dorf der beiden auch so ist, so ein Ensemble aus hochbeinigen Hütten um einen Weiher, mit Holztrögen, in die das Viehfutter geschüttet wird, mit Erdnussfeldern und Palmenhainen ringsum, gesegnet mit der schwarzen, fruchtbaren Erde, beschenkt mit den Pagoden, die dicht verteilt in den Ebenen stehen? Ja, hier lässt sich vom Ackerbau leben, und was man nicht besitzt, das wird aus Schrott zusammengebaut.
    Man sieht zwei Arbeiter im rasenden Wechsel auf die glühenden Eisen auf dem Amboss hämmern; man sieht den einsamen Bauern unter der Palmyrapalme die Baumgeister anbeten und beschwichtigen, ehe er zum Ernten mit der Machete in die Krone steigt. Man sieht den Töpfer über der Platte den Ton schaben, damit der rechte Wasserkrug entstehe; man sieht die Bambusmattenflechter ihre Streifen gerben; man sieht die Goldschläger, die mit schweren Geräten rhythmisch auf Papierballen hämmern, in denen sich eben wieder ein Goldkorn zu Blattgold verwandelt; man sieht die Frauen die weiße, schützende Tanaka-Paste aus Wasser, Rinde und Sandelholz anrühren und auftragen; man sieht sie mit süßem Baumrinde-Shampoo bedeckt bei ihrer Haarwasch-Zeremonie, und steht der Zug, dann dringt aus den nahen Klosterräumen der Klang der Schellen und Flöten, als sei dies der Sound, den die Götter mögen, das Äquivalent zum Kerzenschein.
    Man kann auch chorisches Beten vernehmen, mit Stimmen, die tönen, als räsonierten sie. Sie sagen immer das Gleiche, sie tun immer das Gleiche, in derselben Reihenfolge tun sie es. So klingt das Mantra des Betens, das niemals verändert wird und den immer gleichen Abläufen folgt, wie das Mantra des Arbeitens. Ja, das Mantra des Betens und das des Arbeitens, sie hängen zusammen, handelt es sich doch um die nämlichen, ewigen mythischen Tätigkeiten.
    Khin Maung hat unterdessen eine bauchige, mit glattem Leder bezogene Flasche entkorkt und gießt mir und sich etwas Reisschnaps in zwei winzige Becher, die er aus Zeitungspapier auswickelt.
    »Vor 1200  Jahren zogen die Kachin aus Tibet in den Norden Birmas«, sagt er. »Als der Große Geist unter den Kachin die Schrift verteilte, erhielten sie sie auf Leder. So trug der Kachin die Schrift unter dem Arm, aber in seiner Aufregung schwitzte er, und zwar so sehr, dass man das Leder zum Trocknen über das Feuer hängen musste. Da erwischten es die Ratten, kauten darauf herum und verschleppten es in einen Reiskorb. Man

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