Die Enden der Welt
Nationalbibliothek zäh und zehrend eine junge Frau mit schwarzem Pagenkopf. Allmorgendlich wuchtete sie einen gewichtigen Stapel Bücher auf den immer selben Tisch und schleppte ihn abends an den immer selben Schalter zurück. Ablenken ließ sie sich nicht. Die Einzigen, die ihre Stimme hörten, waren die Bibliotheksdiener, die ihr die Bücher aushändigten und diese abends wieder in Empfang nahmen. Niemand lud sie zum Kaffee ein, niemand hielt ein Schwätzchen mit ihr, und da ich zwei Tische hinter ihr saß, kann ich sagen: Sie hat auch selbst niemanden eingeladen oder von seinem Tisch abgeholt. Blass war sie, und dennoch weiß gepudert, ließ sich nie ohne campariroten Lippenstift sehen und musste sich schon in ihren späten Zwanzigern die Haare färben. Rabenschwarz.
Vor den Zudringlichkeiten anderer Geistesarbeiter bewahrte sie nicht ihr etwas skurriles Aussehen oder ihr abweisender, beinahe höhnischer Habitus, und auch nicht ihr Arbeitseifer, der kein Eifer war, sondern ein Brennen, eine Wut, ein Sich-Verzehren. Unfreiwillig umgab sie etwas Ungemütliches, die Aura einer Hysterikerin, die eigentlich fanatisch oder ekstatisch, jedenfalls unvernünftig und verzweifelt verquer im Leben zu hängen schien. Ihren wirklichen Namen habe ich nicht oft benutzt, denn sie konnte ihn nicht leiden, weshalb wir uns einigten, »Clarisse« sei der Name, der besser als alle anderen zu ihr passe. Besser als an ihre Physiognomie kann ich mich eigenartigerweise an ihren Geruch erinnern, einen körperlosen, brandigen, das Trägermedium für den Geruch von Betschwestern, die unerlöst geblieben sind.
Ich arbeitete in dieser Bibliothek schon Monate, in denen wir uns allenfalls zur Kenntnis genommen hatten, Monate, in denen ich vor allem ihren Nacken studierte, ihren pudrig weißen, nackten Nacken, der die schwarze Haarkappe stützte wie der Stiel den Hut eines Champignons. Das war Monate so gegangen, bis ich eines Tages aus der Mittagspause kam und einen Zettel auf meinen Papieren fand. Darauf standen, mit dünner violetter Tinte hektisch hingeworfen, die Worte: »Unser Mann aus Kairo ist am Bahnhof angekommen.«
Als sie das nächste Mal ihren Platz verließ, prüfte ich im Vorbeischlendern, ob sie wirklich mit violetter Tinte schrieb. Dann lehnte ich mich abends an ihren Tisch und fragte:
»Und?«
Sie schrieb über Kafka, aber Forschung konnte man es nicht nennen. Kafka zwang ihr seinen Willen auf, er übte einen Bann aus. Nichts und niemand bestand gegen ihn. Es war ein Fall von Ernst-Nehmen, das jedes Maß sprengte, der ideale Fall eigentlich, nahm sie ihn doch ernster, als er sich wohl selbst genommen hatte. Es war eine Geiselnahme, mit ihr selbst als Geisel.
Kafka höhlte ihr Leben aus und bewegte sich in ihr, und wenn sie ihn ihren »geistigen Vater« nannte, tat sie es nicht, ohne den leiblichen Vater herabzusetzen, der als abruzzesischer Gastarbeiter nach Österreich gekommen war – in ihren Worten ein verachtenswerter, dort nie heimisch gewordener Mann, der sich in ihrer Kindheit Zweideutigkeiten mit ihr erlaubt hatte. Zweideutig auch, wie sie davon sprach, denn manchmal wirkte es, als wünschte sie, es sei so gewesen, damit sie einen Grund hätte, nach dem frühen Tod der Muter nun auch den Vater von sich abzutrennen, um Platz für Kafka zu schaffen.
Eine Zeitlang sahen wir uns regelmäßig. Es war immer unkonventionell, immer anregend mit ihr. Man schlief wenig, und gedanklich war alles erlaubt. Einmal erläuterte sie mir das Motiv des Hungerns bei Kafka: Es sei kein Hungern im materiellen oder sozialen Sinn, auch habe es mit dem Verlangen, der Not, dem Begehren nichts zu tun, vielmehr versuche sich der Hungerkünstler zu revidieren, also seine Existenz auszutrocknen, um sie am Ende wie eine Haut abstreifen zu können.
»Es handelt sich um Selbstaufgabe als Bedingung der Selbsterschaffung. Er muss sich verlieren, um sich gewinnen zu können. Aber er kann es nicht mit einem Mal, auf einen Schlag tun, sondern jedes Quäntchen von sich muss er einzeln loswerden. Siehst du, es ist nicht einfach bloß dialektisch. Er ist der Mensch, der ist, indem er zu nichts wird. Oder der ist, indem er zu nichts wird, zunichte wird, verstehst du, er ist, indem er nicht isst.«
»Verstehe.«
Ich musste sie beruhigen. In dieser Nacht wurde es so spät, dass sie bei mir schlief, das heißt, ich schlief. Sie schwang sich mitten in der Nacht auf mich, nestelte an meinem Schoß und hechelte in mein Ohr, wir sollten jetzt ein Kind
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