Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
machen, ein Kind, das uns erlösen würde, alles ginge darin auf, alles. Ich redete ihr schlaftrunken das Kind aus, nicht die Erlösung.
    Dennoch war dies der einzige Moment, in dem sich etwas Wahnhaftes gezeigt hatte, etwas Ängstigendes, und aus ihrer anschließenden Beschämung und meiner Vorsicht ergab sich von nun an eine Distanz, die ihren Ursprung im Moment der größten Nähe hatte. Mit diesem Moment konnten wir nicht mehr unkonventionell umgehen. Etwas hatte sich gezeigt, das auch wahrhaftig war, aber größer als unser unaufgeräumtes Verhältnis.
    Wir trieben auseinander. Ich verließ Wien, ihre Briefe blieben bald aus, und da wir keine gemeinsamen Freunde hatten, erhielt ich auch sonst keine Nachrichten von ihr. Von ihrer Kafka-Arbeit gab es in der akademischen Welt keine Spur.
    Dann rief eines Abends ihr Vater bei mir an, was auf eigene Weise furchtbar war, denn vor meinem inneren Auge schwankte sein Bild zwischen dem abruzzesischen Arbeiter, der in die Fremde gekommen war, und dem zudringlichen Familienpatriarchen. Lange rückte er nicht mit seinem Anliegen heraus, trotzdem konnte man seiner latenten Aufregung anmerken, dass sein Anruf eine böse Pointe haben würde, die er hinauszögerte, um vor allem sich selbst zu schonen.
    Clarisse habe sich mit dieser Kafka-Arbeit ruiniert, sagte er. Natürlich sei er anfangs stolz gewesen, dass seine Tochter eine »dottoressa« sein werde. Er verstehe ja nichts von dem, was sie da schreibe, aber irgendwann sei das doch alles nicht mehr normal gewesen. Sie hatte ihm Kafka zu lesen gegeben, er hatte es auch wirklich »interessant« gefunden, und manchmal sei der Mann ja auch »richtig lustig«, aber was sie daraus mache …
    »Was macht sie denn daraus?«
    Vor zwei Monaten hatte sie um Aufnahme in einen Nonnenorden gebeten. Die Schwestern von M. hatten sie auch wirklich zur Probe akzeptiert, dann aber allmählich verstanden, dass es ihr nicht um den Dienst am Herrn ging, sondern dass sie sich im Kloster eigentlich aushungern wollte. Das gehöre sich natürlich nicht, und so hatte die Äbtissin befunden, dass Clarisse des Klosters wieder verwiesen werden müsse. Als der Vater die Tochter abholte, war sie schmal und völlig verwildert.
    In die Bibliothek konnte er sie nicht zurückschicken, sie sich allein in ihrer Wohnung zu überlassen war ihm zu gefährlich, also hatte er sie in den Wagen gesetzt und war mit ihr nach Hause gefahren, in die Abruzzen.
    »Sie kennen den Lago Fucino, ja? Auf der anderen Seite, also auf der Südseite des Lago Fucino, da liegt in den Bergen Campobasso.«
    »Da kommen Sie her?«
    »Ja.«
    »Haben Sie noch Familie dort?«
    »Nein.«
    »Von da rufen Sie mich an?«
    »Ja.«
    »Und was erwarten Sie von mir?«
    »Helfen Sie uns.«
    Er sagte »uns«, ein ganz anderer Plural als »unser Mann aus Kairo«, von dem ich nie wieder hatte hören sollen.
    Als ich zwei Tage später aufbrach, war meine Stimmung diffus: Die Telefonstimme des Vaters klang bedauernswert, die Vorstellung, Clarisse allein mit dem Vater in einem Abruzzendorf zu wissen, beunruhigend, aber auch um des Abenteuers willen ließ ich mir eine Bahnkarte zum Fuciner See ausstellen. Dabei spielte neben der Sorge auch die Vorstellung der Landschaft eine Rolle, in der ich nie gewesen war.
    Der Lago Fucino, das war ein Topos aus einer Literatur, in der Italien noch »Arkadien« hieß und nach Zitronen und Friedhofsengeln roch. Wilhelm Waiblinger, der jung und verwirrt in Rom gestorbene Freund Hölderlins, hatte ehemals in einem Brief geschrieben: »Welch eine südliche Farbe im See! Welch ein Blau, welche violette, grünliche Töne in ihm! Welch ein wollüstiger, prachtvoller, schmachtender Zauber in den holdseligen Gebirgen … Von der Klarheit dieses Sees haben Sie keinen Begriff. Die reizenden Umgebungen spiegeln sich nicht nur in unbestimmten Massen, sondern in den zartesten Umrissen, mit allen ihren Farbentönen, Einzelheiten, Berg- und Felspartien aufs entzückendste in der regungslosen wollüstigen Wasserfläche ab. Sie glauben gar nicht mehr auf Wasser zu schweben, es scheint ein anderes, viel feineres, dünneres, geistigeres, dem Licht verwandtes Element zu sein, auf dem Sie hingleiten, auf dem der Reflex des dunklen südlichen Himmels ruht.«
    Ich stöberte weiter durch die Münchner Staatsbibliothek auf der Suche nach literarischen Vignetten des Sees, und fand, dass andere, die weniger Schwärmer waren als der junge Waiblinger, meinten, kein Wasser münde in den See, keines

Weitere Kostenlose Bücher