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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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fließe von ihm ab, unterirdisch entleere er sich, seine Vegetation sei eintönig, und eine düstere Stille laste auf ihm. Auf Aquarellen von Edward Lear wirkte er tatsächlich wie ein umgekipptes Gewässer, faszinierend tot.
    »Fahren Sie bis Avezzano«, sagte die Schalterbeamtin, als ich eine Bahnkarte löste. »Das liegt am nächsten dran.«
    Gut, also nach Avezzano, in die unglückliche Stadt, die von einem Erdbeben im Januar des Jahres 1915 vom mittelalterlichen Städtchen in ein Barackenlager verwandelt wurde. Von den 13   000 Einwohnern überlebten damals gerade mal zweitausend. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Ort dann noch von den Alliierten bombardiert, die hier Deutsche treffen wollten. Dabei hatte es sich eigentlich um ein wichtiges italienisches Widerstandsnest gehandelt. Es ging in den Flammen des »friendly fire« auf.
    Ich machte meinen Weg über den Brenner, durch die Tunnel der Emilia Romagna und die Ebenen der Toskana, Umbriens. Hatte man die Ausläufer der Alpen erst einmal hinter sich – wie befreiend der unmerkliche, beschwichtigende Wandel zum Sanft-Werden. Jetzt erhob sich die Landschaft nur noch zu rundkuppigen Hügeln, jetzt stiegen die oft abgeflachten Kegel individuell und wie unverbunden neben den gewundenen Flusstälern und aus verödeten Senken empor, wie die Wirtstiere einzelner, von alters her befestigter Ortschaften, die sich über der Flanke ausbreiteten und meist aus dem Fels des Hügels herausgehauen worden waren. Fast alle alten Ortschaften hier hatten so auf den Anhöhen oder am Hang gesiedelt, und nur die modernen Städte suchten – unbeeindruckt von alten Verteidigungsideen, aber mit ihren Industrien abhängig vom Wasser – ihre Lage am Fluss.
    Die erste Suggestion der Abruzzen geht von ihrem Licht aus, einem Licht, das die fernsten Hügelrücken zu bloßen Konturen ausbleicht, die Kuppen des Mittelgrundes blau aus dem Sfumato der Talnebel emporsteigen und den nächstgelegenen Landstrich umso farbenkräftiger wirken lässt. Jede Zone dieser typischen Terrassenlandschaft, die sich manchmal Zeile für Zeile mit baumbestandenen Rücken in die Ferne schiebt, besitzt ihre eigene Farbigkeit, ihre eigene Auflösung des Kolorits in das Weißblau von fernem Dunst und Himmel, ihre eigene Struktur: weit weg nur bläuliche Fläche, näherzu ein Heraustreten der graubraunen Orte aus dem Grün und Schwarz der Äcker und Weiden, und in der Nähe die reiche Differenzierung asymmetrisch geschnittener Ackerflächen, verwilderter Parzellen, unbereinigter Einsprengsel und zugewucherter Bachläufe, über denen blühende Büsche und Weidenruten hängen.
    Wo aber die Tafelberge zurücktreten, ihre gestreckten Rücken in langsam fallenden Hängen auslaufen und die Wellenbewegung der Hügel zu einem Stillstand kommt, bildet sich vereinzelt jene andere Landschaft heraus, grandios schlicht: die der Ebenen und Hochebenen. Hier dehnt sich zu beiden Seiten der einsamen Straßen eine Mondlandschaft von eigener Charakteristik und fast ohne Besiedlung, ja, manchmal fast ohne Spuren menschlicher Arbeit. Immer wieder erstrecken sich Felder von Disteln und einfachen Saxifragen über Geländeschwellen hinweg, und nur in den ferneren Ebenen, wo die sanften Faltungen des Gebirges von seiner dramatischen Höhe hinabführen, haben Bauern vereinzelt Getreidefelder angelegt, von Mohn und Kornblume sattsam durchwachsen.
    Größte Teile der Landschaft sind hier unbebaut geblieben, oder sie wurden aufgegeben. Wie mit Steppenbewuchs besetzt, strecken sich die Hänge, und die fernen Kornfelder liegen so unbestimmt im Dunst, als ruhten hier noch die vorgeschichtlichen Seen. Andere Felder dagegen wurden aus der Wildnis förmlich ausgeschnitten und sitzen nun als einfache geometrische Muster wie Flicken auf einer Erde, die sonst keine akkuraten Figuren kennt.
    Über weite Strecken scheint diese Landschaft die Spuren menschlicher Anwesenheit geradezu zu verdrängen, dann aber tauchen plötzlich einzelne Gehöfte auf, eine Bar, ein Laden, und zwischen den wenigen Häusern verlaufen sich die Gassen wie offene Flure, durch die man die verschiedenen Zimmer eines Hauses verbunden hat. Denn wie sich die Außenbezirke der Städte manchmal in die Dörfer hinein- und durch sie hindurchgeschoben haben, so ist im Netzwerk der Gassen, Stiegen und Pferdetreppen der Bergdörfer die Scheidung zwischen öffentlichen und privaten Räumen oft verwischt.
    War man in Höhenlagen ehemals sicherer vor Angreifern, so sind solche Ortschaften

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