Die Enden der Welt
gepflügt werden muss. Die Wiesen prangen im Blumenflor, Klee und Gras sind zart weich und gleichsam ewig jung; denn alles wird von beständigen Bächen genährt. Aber trotz der Wasserfülle ist kein Sumpf da, weil der geneigte Boden das empfangene Wasser, das er nicht aufnehmen kann, an den Tiber abgibt. Dieser schiffbare Fluss strömt mitten durchs Gefilde und trägt alle Feldfrüchte nach Rom hinab im Winter und Frühling; im Sommer wird er seicht und trocken, gewinnt dann im Herbst neue Kraft. Die Aussicht auf diese Gegend von einer Anhöhe aus gewährt einen großen Genuss. Man glaubt nämlich nicht eine Landschaft, sondern ein Gemälde von außerordentlicher Schönheit zu schauen: ein solcher Wechsel, eine solche Zeichnung begegnet dem Auge, wohin es sich wenden mag.«
In Avezzano verließ ich den Zug. Es war noch früh am Morgen und so, wie es sein soll: Die Frauen fegten in Lockenwicklern die Straße, und die Männer palaverten über den rosafarbenen Seiten der »Gazetta dello Sport«. In der ersten Bar am Bahnhof fragte ich einen einsamen Zeitungsleser nach dem Weg zum See. Er fragte nach. Ich wiederholte: »Zum Lago Fucino.« Er faltete die Zeitung zusammen, wobei er mich nicht aus den Augen ließ, und sagte gutmütig belustigt:
»Ci porto io.« Ich bring Sie hin.
Anschließend schleppten wir uns in seinem kleinen blauen Vehikel mit dem furzenden Auspuff den Berg aufwärts, bis zu einer Piazzale, wo der Mann seinen Wagen parkte und es sich nicht nehmen ließ, mich bis an die Brüstung über dem Tal zu führen:
»Ecco il Lago Fucino«, sagte er mit der Geste des Besitzers.
Und ich erblickte den See im zweiten Konjunktiv, den See, der hätte sein können, eine gigantische Einlegearbeit aus Grün- und Braunflächen, mit scharf geschnittenen Parzellen, die dem Verlauf der Wege folgten, den Teppichen der Stauden- und Getreide- und Gemüsefelder, an deren Säumen nur vereinzelte Höfe standen.
Der Fuciner See ist nicht mehr, »non c’é più il lago«, sagte der Mann an meiner Seite. Ausgetrocknet, nicht von der Zeit, sondern von der Arbeit des Menschen.
Ich blieb auf einer Bank über dem Tal sitzen und schaute: Irgendwo scheint immer die Sonne auf die Fläche, oder Lichtflecken jagen darüber hinweg, und als sei der Grundstoff immer noch Wasser, laufen die Äcker gegen den Rand der Senke hin aus, lassen erst lockere, dann dichte Besiedlung zu und verlieren sich. Wenn aber der Nebel über der Ebene liegt, kann es von Ferne so aussehen, als sei der See zurückgekehrt in seine Heimat, sein Bett.
In den nächsten Tagen verlor ich mein eigentliches Reiseziel immer wieder aus den Augen, fasziniert von dem See, der keiner war, ging in die kommunale Bibliothek, um über den Lago Fucino zu lesen, und saß anschließend ganz verrentnert über der Ebene. Als er sich noch hier ausbreitete, soll er sehr fischreich gewesen sein, der See, an dessen Ufern die Marser und später die Römer Oliven, Wein und Früchte anbauten. Sein Klima galt zwar als rau, aber bis zu seiner Austrocknung ist er angeblich nur fünfmal zugefroren, zum ersten Mal im Jahr 1167 . Rätselhaft erschien den Anwohnern wie den Historikern das Steigen und Fallen seines Wasserstandes. Im Jahr 1752 soll er so flach gewesen sein, dass man die Fundamente der antiken Stadt Marruvium erkennen und Statuen von Claudius und Agrippina bergen konnte.
Und nun steht man an der Stelle, an der ein Traum realisiert, also beerdigt wurde, ein Traum, den die Antike zu träumen begann und die Neuzeit austräumte. Der früheste Plan zur Austrocknung des Sees, der durch einen Erdrutsch entstanden war und den Fluss Sagittario auf einer Fläche von 155 Quadratkilometern staute, stammt von Caesar, der sich von der Nutzbarmachung der Ebene vor allem Korn-Nachschub für die wachsende Stadt Rom versprach. Er kam nicht weit.
Kaiser Claudius griff mit demselben Argument den Plan wieder auf und begann ihn 44 nach Christus in die Tat umzusetzen, eine Plackerei, zu der nach Angaben römischer Historiker 30 000 Arbeiter, hauptsächlich Sklaven, verpflichtet wurden, die sich an die Konstruktion der unterirdischen Ableitungskanäle machten.
Elf Jahre später waren die Baumaßnahmen abgeschlossen, und Kaiser Claudius reiste zur Einweihung des grandiosen Projekts mit dem gesamten Hofstaat an. Tribünen wurden errichtet, Festspiele abgehalten und auf dem Höhepunkt die Schleusen geöffnet, doch durch den Kanal ergoss sich allenfalls ein Rinnsal, und der Wasserspiegel senkte sich
Weitere Kostenlose Bücher