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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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heute gefährdet durch ihre Abgeschiedenheit und Isolation. Siedlungsformen aber sind ja auch Lebensformen. Deshalb wird man unter den Leuten im Gebirge beispielsweise häufiger gemeinsame Feste, gemeinsames Arbeiten wie Backen und Waschen finden, das Lastentragen mit Eseln oder das Balancieren auf dem Kopf, lauter Bräuche, die im Tal verschwunden sind und dort auch die Formen der Geselligkeit, des sozialen Austauschs und Gemeinschaftslebens weniger eng und verpflichtend haben werden lassen.
    Man tritt in diesen Landschaften in die Bildhintergründe eines Piero della Francesca, auch eines Perugino ein. In den Allegorien auf den Tafelrückseiten von Pieros Doppelporträts des Federico da Montefeltro und seiner Frau Battista Sforza breitet sich so eine reich differenzierte, fast überprononcierte, idealisch erhobene Landschaft aus, mit einzeln emporragenden Hügeln, die so charakterisch sind für die Gegend, in der sie entstanden.
    Und Perugino hat, als seine Bilder klassischer und stereotyper wurden, den Reichtum dieser Landschaftsformen zu einem immer wiederkehrenden Prospekt nivelliert. Da sind die von beiden Seiten zur kompositionellen Mitte hin auslaufenden Hügelrücken, die von zartpudrigem Laubwerk besetzten Bäume auf den Scheiteln, und auf der Bildachse schlängelt sich eine weitläufige Ebene in die idealisch erblaute Bildtiefe, wo noch ein See erkennbar ist, an dessen Ufern gejagt oder gearbeitet wird, und wo Schäfer ihre Weiden haben oder ihre Tiere tränken.
    Die Prospekte stehen noch heute, die Szenerien sind noch zu finden, im Westen besetzt von den Buckeln der Sandsteinhügel, die sich zum Apennin aufbauen, im Osten und Süden charakterisiert von den schrofferen Konturen der Kalksteingebirge mit ihren Flachdach- und Plateauabschlüssen. Wo über den grünen Tälern und Bachläufen, über den waldigen Hängen die nackten Felsmassive hervortreten, erkennt man den kontrastarmen grauen Stein, der viele der kleineren Siedlungen ganz beherrscht und die Häuser den Felsen assimiliert.
    Da zahlreiche kleinere Ströme in den größten Strom der Region, den Tiber, münden, ist dieser zur Hauptschlagader des Verkehrs geworden. Die Bahn begleitet wie die Schnellstraße sein Tal, kleinere Verkehrswege folgen den Flüssen, die als Verbindung zwischen den Becken und Langtälern zu beiden Seiten in weniger erschlossene Gebiete führen.
    Ich saß in der Bahn und folgte dem Tiber-Tal Richtung Süden. Wenn die Reise einen Zweck gehabt hatte, so war er inzwischen verloren gegangen. Zu Anfang gab es einen Anlass, nicht mehr, und am Ende würde es eine Situation geben, nicht weniger. Dazwischen lag das Versprechen einer Erfahrung, anziehend wie Angstlust. Ich sah mich mit Clarisse irgendwo in den Bergen hinter dem Fuciner See sitzen, auf das Wasser blicken und darüber nachdenken, wie es weitergehen könnte. Aber das war nicht wirklich.
    Wirklich war Arkadien, die Landschaft uritalienischer Schäfer-Idylle. Denn im »grünen Herzen Italiens«, wie Carducci die Region in seinen berühmten Versen besang, finden sich tatsächlich noch Schäfereien und Hirten, die über die legendären »tratturi«, die antiken Viehpfade, ihre inzwischen geschrumpften Herden aus Apulien und Kalabrien herbeiführen.
    Der Tiber gliedert das Bergland in nord-südlicher Richtung. Die Landstriche zu seinen Ufern sind von der Gegenwart nicht unbearbeitet, und doch scheint durch diese Landschaft jene antike noch hindurch, die Plinius der Jüngere in seiner Beschreibung des oberen Tiber-Tals beschwörerisch feiert: »Die Gegend ist wunderschön. Stelle dir ein ungeheures Amphitheater vor, wie es allein die Natur zu bilden vermag: eine weit ausgedehnte Ebene wird von Bergen umgürtet, die Berge sind mit altem Hochwald bekrönt und haben einen reichen Wildstand. An den Abhängen zieht sich Schlagwald hinunter, dazwischen fette Erdhügel (denn Felsen sucht man hier überall vergebens), die dem ebensten Gefilde an Fruchtbarkeit nicht nachstehen und eine gesegnete Ernte, wenn auch etwas später, so doch zur vollen Reife bringen. Unterhalb erstrecken sich Weinberge ringsherum und gewähren weit und breit einen einheitlichen Anblick. Wo sie aufhören, folgen Obstpflanzungen und bilden gleichsam ihren Saum gegen die Ebene. Diese enthält Wiesen und Kornfelder. Riesige Ochsen und die stärksten Pflüge allein werden mit dem Boden fertig. Nimmt man ihn nach der Brache in Angriff, so ist er äußerst zäh und erhebt sich in solchen Schollen, dass er neunmal

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