Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
diesem brandigen Keuchen und Eifern. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, ich sei nur angereist, um der Adressat dieses Wutausbruchs zu sein, das vor allem. Sie ließ meine Hand nicht los, zog mich über einen Feldweg auf den kleinen Friedhof des Ortes, den idyllischsten Flecken weit und breit, mit Blick bis auf den fernen Fuciner See. Dort ließ sie mich los und stolzierte nun nach beiden Seiten übertrieben dirigierend über den Kiesweg zwischen den Sepulkralskulpturen, den bemoosten Steinen und Platten, mal auf diesen, mal auf jenen Grabstein zeigend und deklamierend:
    »Maria Passa, Francesco Farinello, Pietra Farinello, Sergio Farinello, Guido Passa, Eleonora Passa, Mauro Farinello, Massimiliana Passa, Pippo Farinello, Gloria Farinello …«
    Sie drehte sich zu mir um, der ich noch mehrere Schritte hinter ihr ging und die Namen nachbuchstabierte:
    »Ein Dorf aus zwei Familien, verstehst du jetzt? Sie sind alle miteinander verwandt: Farinello, Passa, Passa, Farinello … Sie sind hier …«
    Sie fasste sich an den Kopf, schraubte mit den Fingern an der Schläfe herum wie eine Italienerin.
    »Sie sind degeneriert, verrückt!«
    Wir setzten uns auf eine Bank und blickten auf den Fuciner See. Von Kafka fingen wir sicherheitshalber beide nicht an. Aber ich erinnerte mich, wie sie gesagt hatte, er komme zu sich selbst erst, indem er verschwinde. Da lag in seiner schäbigen Symbolik der ferne See, der keiner war, und Clarisse geiferte neben mir, dass nun kein Ort mehr sei, keiner, keine Bibliothek, kein Kloster und am wenigsten dieses Dorf, kein Fleck unter dem Himmel, wo sie bleiben könne. Und ich blickte auf das Land, das der ausgetrocknete See freigegeben hatte, wie es dalag, so akkurat parzelliert, so saftig und fruchtbar, dass man vor seiner Schönheit hätte verzweifeln können.
    Heute lebt Clarisse nicht mehr. Sie hat schließlich doch noch einen Ausgang gefunden, es war der aus ihrem Leben.

Gorée
    Die Tür ohne Wiederkehr
    Die Insel der Seligen ist unterkellert. Man weiß es, doch sieht man es nicht, wenn man mit einem kleinen Boot im Hafen von Dakar ablegt und auf diesen bloß drei Kilometer entfernten Festungsfelsen zufährt, die schreckliche Idylle, die zuerst bloß »Ber« hieß, später »Ila de Palma«. Die britischen Besatzer tauften sie »Cape Coast Castle«, und erst die Franzosen nannten sie schließlich Gorée, den »guten Hafen« oder auch »Gorée, die Glückliche«, aber das war schon zu der Zeit, als die Schiffe mit den aneinandergeketteten Sklaven über den Atlantik kamen und sich kaum jemand glücklich schätzte, Gorée zu erreichen.
    Alle zwanzig Minuten geht heute die Fähre aus Dakar. Die Frauen auf dem Schiff in ihren prachtvollen Bubus balancieren auf den Köpfen Südfrüchte, Zucker, Süßkartoffeln, Obst. Wo sie ankommen, wohnen heute auf einem Felsen, der einmal fünftausend Einwohner beherbergte, noch etwa tausend. Von denen liegen an diesem Mittag die einen in Hängematten, die anderen flanieren unter der wehenden Wäsche über den Gassen, die Dritten lagern in der Wiese über den freilaufenden Schafen, die Vierten sitzen bloß da, in einer Luft voll von Kinder- und Vogelgeschrei.
    Nur knapp einen Kilometer lang und dreihundert Meter breit ist dieses legendäre Eiland auf der westlichsten Spitze Afrikas. So sahen wir Gorée vor uns, noch vom Boot aus. Greta hatte den Teint der Südeuropäerin, führte die Ursprünge ihrer Familie aber auf afrikanische Sklaven zurück, und so hatte sie vor unserem Besuch alles darangesetzt, mich über die Bedeutung der Insel aufzuklären.
    1444 wurde Gorée von Portugal, dann von Frankreich besetzt, in der Folge aber auch von den Engländern, Holländern, den Dänen und Schweden, dann wieder von den Engländern, die hier eine Zeitlang ein Warenlager unterhielten. Allein siebzehnmal wechselte die Insel die Besitzer, ein Fort mehr als eine Residenz, eine Festung, deren schwarze Kanonen immer noch über den Hafen zeigen.
    Von den Portugiesen war die Palmeninsel auf der Suche nach den sagenumwobenen westafrikanischen Goldfeldern okkupiert worden. Knapp hundert Jahre später begann unter den Besatzern der hiesige Menschenhandel, und bis zu seinem Verbot im Jahr 1848 diente die Insel als Stützpunkt für die Verschiffung von Sklaven.
    Nachdem Nordamerika entdeckt war, man für die Plantagen dort, aber auch für die in Brasilien und auf den westindischen Inseln Arbeitskräfte brauchte, florierte der Handel. Zwischen dem 16 . und dem 19

Weitere Kostenlose Bücher