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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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verlaufen schnurgerade.
    Von der anderen Seite des jetzt trockenen Sees aus bin ich dann unverzüglich nach Campobasso getrampt. Das war nicht schwer. Auf dem Land nehmen die Leute selbst Fremde mit. Ein paar Kilometer später sind sie keine mehr. Der letzte Wagen setzte mich vor der Tür der »Locanda« ab, das heißt, des einzigen Hauses, das »Fremdenzimmer« anbot.
    Der Ort hatte ehemals zweitausend Einwohner gezählt. Inzwischen waren nur noch die Alten übrig, eine kleinere Gruppe war nach Rom ausgewandert, eine größere nach Kanada und in die USA . Ihre Gesichter starrten mich später aus dem Sepiaton der Fotografien im einzigen Gasthaus an. Auf der ganzen Welt bilden die Abruzzesen eine namhafte Exilantengemeinde. Die raue Provinz des Hochgebirges, der Bauern und der Bären ernährt auf dem Lande ihre Leute kaum noch. Die Zurückbleibenden gehören einem aussterbenden Volk an, und in manche dieser halb verlassenen Ortschaften mit ihren Ruinen, in ihre nur noch fragmentarisch mit Straßenbeleuchtung versorgten Gehöfte, ziehen die »Vucumprà«, Flüchtlinge aus Afrika. So werden sie ihres Akzents wegen böse genannt, wenn sie auf den Marktplätzen die geschnitzten Elefanten ihrer Heimat feilbieten. So treffen in den abruzzesischen Dörfern die Letzten der Zurückgebliebenen auf die Ersten, denen die Flucht gelang.
    Ich ging quer durch den Gastraum, wo ich auf dem Plätzchen hinter dem Haus Clarisse mit ihrem Vater sitzen sah. Der erhob sich und schüttelte mir freudlos die Hand. Clarisse schnellte bei meinem Anblick heftig errötend hoch, wie mitten aus einem Streit, und sagte bloß:
    »Da bist du ja endlich!«
    Ich hatte sie blass in Erinnerung, jetzt war ihr Teint fiebrig. Ihre Haare hatte sie dem werdenden Grau überlassen, und ihr Aufzug war nicht mehr nachlässig, sondern fast verwahrlost. Sie führte mich am Unterarm ab, quer durch den Gastraum, küsste mich auf halber Strecke konventionell, aber demonstrativ und suchte anschließend das Freie. Der Wirt blickte uns unwirsch hinterher. Ein düsterer Empfang! Auf dem Sträßchen vor dem Haus wandten wir uns nach rechts, dann noch mal nach rechts, dann waren wir fast schon überall gewesen.
    »Alle sind seltsam zu mir«, zischelte Clarisse.
    »Wie: seltsam?«
    »Du kennst sie nicht. Das sind andere Menschen. Mit solchen hattest du noch nie zu tun.«
    »Lass sie. Du bekommst deine Ruhe, kannst …«
    »Wegen dem ersten Abend sind sie so. Das liegt alles an dem ersten Abend.«
    An jenem Abend war sie mit dem Vater in den Gastraum getreten. Er hatte ein paar der dort Versammelten begrüßt, die Stimmung war angespannt, auch verlegen gewesen. Sie hatte sich zusammengerissen, vor dem Wirt geknickst, und jeden per Handschlag begrüßt.
    »Dann wollen wir mal das Zimmer beziehen«, hatte der Vater gesagt.
    »Welches Zimmer?«, hatte sie gefragt.
    »Unser Zimmer.«
    »Wir brauchen zwei Zimmer.«
    Indignierte Blicke auf sie, offen seien die Köpfe geschüttelt worden. Kokett lachend hatte der Wirt den Schlüssel am Brettchen vor ihren Augen tanzen lassen. Als sie ihm den aus der Hand schlagen wollte, ging ein Alter schlichtend dazwischen, meinte aber, in der ersten Nacht könne man es doch einmal ausprobieren.
    »Nichts: Ausprobieren!«, hatte sie gerufen und dann mit ausgestrecktem Zeigefinger schneidend durch den Gastraum geschrien: »Ich schlafe mit diesem Mann nicht in einem Zimmer!«
    Andere vergrößern gern, was sie in ihrer Rage angeblich gesagt haben, bei Clarisse war es eher umgekehrt. Man konnte sicher sein, dass ihr Schrei beißend gewesen war und dass sie ihrer Feststellung noch eher einen Fluch hinterhergeschickt hatte.
    »Was geht Sie alle das an«, hatte sie geschrien und den Wirt auf Deutsch einen »Flatterfüßler« genannt, dem sie den »lombardischen Blutkackerich« an sein »Rektum« wünsche.
    Ich schüttelte den Kopf, aber nicht aus Missbilligung, auch nicht, weil ich ihr nicht glaubte, eher über die bizarre Konstellation, über die Havarie des Vaters.
    Clarisse aber missdeutete auch mein Kopfschütteln.
    »Findest du das normal? Eine erwachsene Tochter mit ihrem Vater auf einem Zimmer, am Ende in einem Bett?«
    »Nein«, sagte ich ihr zuliebe.
    »Die sind alle nicht normal. Alle nicht! Die stecken alle unter einer Decke.«
    Ich musste wieder lächeln, doch dieses Mal bloß der Metapher wegen.
    Sie aber griff empört nach meiner Hand und zog mich die Straße herunter, mit diesem fanatischen Augenausdruck, den sie früher schon hatte,

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