Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
zum Anziehen. Ihre Schwester schaute erschrocken. Wenn man genau hinsah, konnte man feinen Dampf von ihrem Oberschenkel in die kalte Luft aufsteigen sehen.
Auch nachts pinkelte sich Lilja jetzt an. Manchmal erwachten sie morgens nebeneinander im Bett wie auf nassen Lappen. Das Laken klebte und stank, und tagsüber wurde es kaum einmal warm genug, die Wäsche zu trocknen. Im ganzen Haus gab es keine frischen Laken mehr, keine Höschen oder Hemden für Lilja. Vor ein paar Tagen hatte ihr Vater einen ganzen Bettbezug mit Schmutzwäsche gefüllt, die riesige Kugel ächzend geschultert und zur Waschstelle geschleppt. In dieser Jahreszeit gab es dort aber niemanden, der sich auch noch um die stinkenden Kleider anderer kümmern mochte.
In den letzten Novembertagen war es auf einmal kalt geworden. Als alle ihre elektrischen Öfen an den Stromkreis anschlossen, knallten die Sicherungen durch. Im Möbellager der Kosmischen Blume waren Kabel durchgebrannt, es gab ein Feuer, und jetzt würden sie im nächsten Sommer vielleicht nicht genug Tische für ihre Gäste haben. Die Leute redeten über gar nichts anderes mehr: Die Rohre platzen. Die Leitungen sind in einem entsetzlichen Zustand. Das Eis steht auf den Fußböden.
Das Fotoatelier Mikkelsen lag in einer Straße mit rutschigem Kopfsteinpflaster. In seinem Schaufensterkasten warb es mit Fotos von Hochzeitspaaren und doof grinsenden Kindern. Niemals würde sie sich so fotografieren lassen. Im Leben nicht.
Sie führte Lilja ein Stück die Straße hinauf, wo um einen kleinen, blätterlosen Baum herum ein Gerüst aus Holzbalken gezimmert worden war. Hundewürste lagen um den dünnen Stamm verteilt, aber sie sahen vertrocknet aus, und in der Kälte stanken sie nicht.
Ich bin gleich wieder da, sagte sie. Sie hob Lilja auf das Holzgerüst und zog ihr die Pudelmütze über beide Ohren. Du bleibst hier sitzen.
Bevor sie das Geschäft betrat, sah sie sich noch einmal das Papierstück an, das sie in der Küchenschublade gefunden hatte. Eine Quittung, auf deren Rückseite ein paar Sätze geschrieben standen und eine Telefonnummer.
Das Klingeln der Tür war längst verhallt, als eine Frau durch einen schweren braunen Vorhang in den Geschäftsraum trat.
Sie reichte der Frau die Quittung und fragte: Sind diese Fotos schon fertig? Die Frau musterte den Zettel, drehte ihn ein paar Mal, runzelte die Stirn und sagte: Der ist ja vom Frühjahr. Das ist schon eine Zeit her. Woher hast du ihn?
Von meiner Mutter, antwortete sie. Sie schickt mich.
Na gut, ich will einmal nachschauen. Die Frau verschwand hinter dem braunen Vorhang.
Sie stellte sich vor eine Wand mit Fotos und durchsuchte die Reihen mit den Porträts. Sie entdeckte kein einziges bekanntes Gesicht. Aus dem hinteren Teil des Ladens hörte sie Stimmen. Dorthin werden die Kinder geführt und auf einen Drehstuhl gesetzt, dachte sie. Ihre Haare werden gebürstet, mit ordentlich Spucke platt an den Schädel gebackst, dann müssen sie in die Kamera grienen.
Wieder öffnete sich der Vorhang, aber diesmal trat ein Mann heraus. Er trug ein Stativ und stellte sich vor eine Vitrine mit Kameraobjektiven. Sie beobachtete seinen Rücken und seinen breiten Hals, um den ein dickes Lederband lag. Er nahm ein Objektiv, schloss den Glasschrank und drehte sich um.
Seine Augenbrauen sahen aus wie zwei fette, struppige Raupen. Sein schwarzer Bart war verschwunden, und sein großes, kantiges Kinn glänzte im Licht der Vitrine, aber sie erkannte ihn an seinen Augen wieder. Er hatte neben dem Bett ihrer Mutter gestanden. Sein buschiger Bart hatte das grelle Licht des Scheinwerfers verschluckt, und später an diesem Tag war dann ihre Mutter verschwunden.
Er war der Mann, der auf einem Foto seinen linken Arm um ihre Mutter gelegt hatte.
Es tut mir leid, sagte die Frau. Sie war lautlos durch den Vorhang getreten und reichte ihr den Quittungszettel. Wir haben keine Bilder. Sag das deiner Mutter.
Als sie die Tür des Geschäfts aufstieß, glaubte sie zu spüren, dass der Mann ihr nachsah. Dass er jetzt überlegte, ob er dieses fremde Mädchen schon einmal gesehen hatte. Und dass er sich ihr Gesicht merken würde.
Ich friere, sagte Lilja. Sie war von dem Holzgerüst gesprungen und empfing sie mit einer vor Kälte knallroten Nase.
S assie Linné wachte auf, weil sie pinkeln musste. Immer wenn sie nachts zum Pinkeln rausmusste, bekam sie Angst, auf eine der Spinnen oder Käfer zu treten, die im unteren Teil des Hauses wohnten und in der Nacht hungrig
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