Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
ist so schlimm?, fragte sie.
– Du bist voll bis obenhin. Deine Pillen und der Alkohol, das ist eine saudumme Kombination. Was hast du heute alles geschluckt?
– Keine Tabletten. Getrunken habe ich auch nicht.
– Deine Augen sagen etwas anderes.
– Na gut. Ich habe eine der Kugeln von Forss probiert.
– Du hast was gemacht? Seine Stimme klang ungläubig.
– Na und. Er hatte ein ganzes Bierglas voll. Ist fast schon vorüber.
– Nichts ist vorüber. Ich kenne dich doch. Du bist high von all dem Koks.
– Koks? Niemals. Das ist kein Koks. Und du weißt nicht, wer ich bin. Du kennst mich nicht.
– Und das ist dir recht. Du willst nicht, dass irgendjemand dich kennt. Myrbäck schaute auf den Boden seiner leeren Tasse.
– Also los, sagte er. Wer bist du?
– Mit vierzehn fange ich an. Vorher ist man ein Kind, das zählt nicht. Auch wenn ich da schon ein Dutzend Mal umgezogen war. Mit vierzehn wohnte ich in Ljusne, bei meiner Tante. Ich hatte die Nase voll vom Provinzleben und den Mückenschwärmen, vom Kohlrabigestank der Papierfabriken. Ich wurde zum Punk und soff, was das Zeug hielt. Ich schwänzte den Unterricht. Ich war gegen alle: gegen die Polizei, die Nazis, gegen die Streber in meiner Klasse, die ganze Gesellschaft. Ich war dabei, wenn es darum ging, vom höchsten Ast zu springen, am längsten wach zu bleiben, am weitesten zu spucken, lauter so Dummheiten. Ich war ein Wildfang. Niemand ertrug eine Kerzenflamme auf seinem Handrücken länger als ich.
Myrbäck sah sie mit vorgebeugtem Gesicht an, mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie sprach.
– Und dann bin ich eines Tages abgehauen. Ich musste doch etwas erleben. Mit fünfzehn bin ich nach Kopenhagen, eine Stadt, in die ich nie wieder zurückkehren wollte. Bin erst für ein paar Monate nach Christiania. Dann zog ich mit Freunden ins Ungdomshuset nach Nørrebro. Einen Sommer lang pumpte die dänische Polizei den Stadtteil voll mit Tränengas. Und irgendwann hatte ich genug. Alle waren abgewrackt, niemand hatte noch Träume. Ich habe die Panik bekommen und bin weiter. Kannst du dir vorstellen, dass ich gar nicht weiß, wo ich manche Jahre verbracht habe? Was habe ich an meinem achtzehnten Geburtstag gemacht, wo lebte ich? Ich erinnere mich nicht.
– Du hast alles vergessen, was? Deinen ersten Kuss, dein erster Liebeskummer? Dein erster Fick? Du pfeifst auf alles, was?
– Sag nicht solche Sachen. Mein erster Junge war rothaarig. Ich habe es nur gemacht, weil ich sehen wollte, ob er auch untenherum rothaarig ist.
– Und?
– Ja. Ein feuerroter Flaum. Er war zärtlich.
– War da niemand, der sich um dich sorgte? Deine Eltern? Myrbäck war aufgestanden und machte sich umständlich an der Kaffeemaschine zu schaffen.
– Gunilla. Gunilla schrieb mir Briefe. Darin stand: Du kommst schon klar, Sassie. Du schaffst das. Das gibt Stärke. Es macht einen aber auch ziemlich hart. Es macht einen starrköpfig. So bin ich: Unglaublich stur. Ich denke an mich. Ich liebe, wen ich will.
Myrbäck erhob sich und stellte die Tasse in die Spüle. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie hörte, wie er die Diele durchquerte, die Treppe hinaufging, dann schloss sich die Tür zu seinem Zimmer, und sosehr sie auch nach den Schritten seiner Rückkehr lauschte, das Einzige, was sie hörte, war das dumme Fiepen des Bachstelzenpärchens, das sich auf dem Dach eingenistet hatte.
Christiania, Dezember 1985
Im Gehen nahm sie eine Handvoll Schnee, presste ihn zu einer Kugel und sah dabei zu, wie Schmelzwasser aus ihrer Faust tropfte. Lilja versuchte es ihr nachzumachen, aber der Schnee hatte ein paar Frostnächte hinter sich, jetzt war er harsch, und es brauchte Kraft in den Fingern, ihn zum Schmelzen zu bringen.
In der Dybbølsgade blieben sie vor der Zoohandlung Jensen stehen. Durch das beschlagene Glas der Scheibe beobachteten sie ein pelziges Knäuel aus weißen Bäuchen, braunen Ärmchen, rosa Schnauzen, das sich in der Ecke eines Käfigs im Stroh drängte. Meerschweinchen, meinte Lilja. Die haben es warm.
Wir sind nicht wegen der Meerschweinchen hier, sagte sie.
Sie zog ihre Schwester am Arm und sprang mit ihr über die Straße. Auf der anderen Seite blieb Lilja stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Sie blickte auf ihre Füße, dann auf ihre Strumpfhose. In Höhe des Oberschenkels wuchs ein dunkler Fleck.
So geht es nicht weiter, sagte sie zu Lilja. Du hast nichts mehr
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