Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
ist?
Raschke blickte schief lächelnd zu ihm auf, beinah traurig.
– Na ja, sagte er. Weil er krank ist. Weil er verschlafen hat. Oder eine Frau getroffen hat.
– Nein, nein, ich meine: Er ist verschwunden. Richtig verschwunden. Oder tot.
– Bin ich sein Frauchen? Seine Mutti? Raschke zuckte genervt mit den Schultern.
– Mal im Ernst. Wenn ihm etwas passiert ist?
– Dann müssen wir beide hier auch ein bisschen aufpassen.
Das hatte sich Myrbäck schon selbst so gedacht. Es tat aber gut, es einmal aus fremdem Mund zu hören. Gleich ließ es sich leichter akzeptieren. Sowenig er Raschke ausstehen konnte, sein Wort hatte Gewicht. Holzapfel nannte ihn den »Großmeister«. Das hatte sich ursprünglich auf die Mühle- und Damepartien bezogen, die beide sich in müßigen Stunden lieferten. Darüber hinaus aber erkannte es die Tatsache an, dass Raschke es war, der die Kontakte zu ihren Auftraggebern pflegte.
Raschke besorgte Papiere, mit denen ihre Wagen problemlos ausgeführt wurden. Raschke handelte Risikozulagen aus und sprach Polnisch mit Zbigniew, wenn sie nicht wollten, dass andere etwas verstanden. Raschke saß nahe am Zentrum der Drehscheibe eines internationalen Autoschieberrings. Und das Gute war: Kein Mensch sah es ihm an.
Myrbäck schob einen rissigen Drehhocker an den Eingang zur Werkstatt. Sobald er saß, schossen Schmerzpfeile durch sein Becken.
– Ich schmeiß mich weg, sagte Raschke.
– Was meinst du?
– Dass du mir die Ehre eines Besuchs machst. Dass du dich um einen von uns sorgst.
– Soll ich dich ab und zu besuchen kommen? Würde es deine Laune heben?
Tatsächlich hatte Myrbäck sich in letzter Zeit nur selten in der Leverkusenstraße blicken lassen. Wozu auch? Er war bloß der Handlanger, der Karo Bube im Gaunerquartett. Wenn Wichtiges anlag, gaben die anderen ihm Bescheid.
– Hat sich Zbigniew in letzter Zeit blicken lassen?, fragte er.
– Heimaturlaub, meinte Raschke kopfschüttelnd. Familienbesuch, denke ich mal.
Wenn Myrbäck und Holzapfel der operativen Ebene der »Perma-Corro« angehörten, dann war Zbigniew ihr Außen dienstleiter. Zbigniew Nikodem Stanczak, ein untersetzter Mann mit früh ergrauten Haaren und tiefschwarzen Augenbrauen, der stets im Blazer und mit Schnallenschuhen auftrat. Wenn er denn überhaupt einmal auftrat: Zbigniew war unterwegs in Geschäften. Er reiste hin und her zwischen seiner Heimat, Danzig-Wejherowo, und Hamburg-Harburg, wo er sich in einer Einzimmerwohnung einquartiert hatte. Nur so funktionierte das arbeitsteilige System von Autodiebstahl und Autovertrieb, die komplizierte Logistik, das Just-in-time-Verfahren, von Zbigniew perfektioniert, mit deren Hilfe auf diesem Hinterhof die Umsätze gemacht wurden. Pronto-Auto, pflegte der Pole zu sagen, das Geheimnis unseres Erfolgs.
Den Schlüssel für Holzapfels Wohnung fand Myrbäck im obersten Regal des Werkzeugschranks, schlecht versteckt hinter Spraydosen mit Startgas und Pappschachteln mit alten Zündkerzen. Durch das Fenster sah er Raschke
Raschke stand vor seinem weißen VW-Transporter unter der Kastanie. Der Wagen war sichtlich in die Jahre gekommen, aber unauffällig, und darauf kam es bei ihm an. Mit einer Plastikdose und einer Thermoskanne kehrte er zurück in die Werkstatt. Er nahm zwei Scheiben Brot, zwischen denen Salatblätter heraushingen, und biss kräftig hinein. Wer schmückt ihm seine Brote mit Salat?, fragte sich Myrbäck. Wer ist so fürsorglich?
Raschke lebte allein, soweit er wusste. Seine Eltern waren vor Jahren gestorben, ein Zugunglück in Bulgarien, seither kümmerte er sich um seinen Bruder. Der litt, wenn Myrbäck sich richtig erinnerte, an einer Blutkrankheit und war hin und wieder ans Bett gefesselt. Raschke brachte einen Großteil seiner Zeit und seines Geldes dafür auf, ihn bei sich zuhause zu pflegen. In des Schuftes Brust schlug ein mitfühlendes Herz.
Ihm fiel die Einkaufsliste ein, die Maria ihm vorgelegt hatte. Sie steckte zerknittert in seiner Hosentasche. Wo treibe ich jetzt Fisch auf?, fragte er sich. Und was meint sie genau? Tiefgefroren? Frisch gefangen?
Myrbäck machte sich auf. Im Gehen drehte er sich um und winkte grüßend. Raschke hob kurz das Kinn und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Christiania, Juni 1985
Vom obersten Regal nahm sie das Vorratsglas mit den Haferflocken, ging vor die Tür, duckte sich an den Hagebuttensträuchern entlang und schüttete den Inhalt auf den Komposthaufen. Sie ließ sich Zeit dabei, die Flocken
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