Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Höhlen zu erkennen vermochte, wo die Augen saßen, vergeblich aber nach jenen notdürftig versorgten, eitergetränkten Schrapnellwunden Ausschau hielt, von denen er in den Bildunterschriften las. Die Schauerlichkeiten waren seiner Neugier entzogen, versteckt unter blitzblanken Verbänden, verborgen unter glatt gestrichenen Laken. Nicht für alle Welt sichtbar, so wie jenes Bein, das jetzt im Grase neben einer Landstraße lag. Umfächert von den gelben Blüten des Löwenzahns, in Kniehöhe leicht geknickt, sein schmaleres Ende von einem weiß-blauen Turnschuh umfasst.
Myrbäck stand in einer stechend nach Ammoniak riechenden Gaswolke, und was um ihn herum geschah, begriff er nicht. Seine Hände zitterten. In seinen Ohren summte es, als suchte ein Schwarm Wespen dort angriffslustig nach Feinden.
Es war Poffes Bein. Die Sprengladung hatte frühzeitig gezündet. Dort, wo er den muskulösen Mann mit dem Schnauzer zuletzt gesehen hatte, klafften in der Panzerung des Unterbodens scharfkantige Metallränder auseinander. Es stank nach Teer.
Schwarzer Qualm stieg vom Wagen auf und sammelte sich unter der Betondecke der Autobahnbrücke, ein Rauchpilz fast, in dem Fetzen von Papier flatterten und trudelnd niedersanken.
Poffe hatte sich beschwert.
Ich habe Dynamit bestellt, keinen ANC-Sprengstoff. Der ist gefährlich. Ich muss das Zeugs mischen, kurz bevor ich es zum Knallen bringen kann. Okay, wenn ein Felsen im Weg ist, dann ja. Alle Mann in Deckung und bumm! Aber doch nicht, wenn es um Sekunden geht. Myrbäck erinnerte sich genau: Der Schnauzer des Mannes hatte vor Empörung gewackelt.
Myrbäck huschte um den Wagen herum, um nicht länger das einsame Bein Poffes vor Augen zu haben. Die Fahrerkabine war ein rauchender Käfig, an dessen Rändern sich versengte Füllwolle nach oben stülpte. Durch Drahtgeflecht und den geplatzten Unterboden konnte Myrbäck auf den Asphalt blicken. Schwarzer Rauch trieb in sein Gesicht, wohin er den Kopf auch drehte.
Bei ihrem letzten Treffen hatten sie Dahlins Klagen als wehleidiges Gejammer abgetan. Und nun hatte keiner den Mut, unter den Wagen zu blicken, weil sich dort Grauenvolles verbarg. Tjock-Aku stand an die Hecktür des Transporters gelehnt, auch Göransson und Jukki hatten sich längst abgewendet vom sterblichen Überrest ihres Kumpans. Die Gewehre im Anschlag hatten sie sich breitbeinig vor einem der Fahrer aufgebaut. Der Rücken seiner Uniform war blutverschmiert, und erschöpft hielt er sich auf allen vieren. Sie brüllten ihn an, er solle endlich die Tür öffnen. Schlüssel her. Tür auf. Dalli, dalli.
Der Mann sah nicht zu ihnen auf. Ihm ist wohl Hören und Sehen vergangen, dachte Myrbäck. Jetzt sind seine Ohren zu.
Der Finne presste den Lauf seines Gewehrs an den Oberarm des Mannes und schoss. Tocke-di-tock.
Es war nicht der Fahrer, es war Per Ola Forss, der getroffen zur Seite kippte. Jukki hatte ihn in seiner Uniform für einen der Wächter gehalten.
Forss wälzte sich vor Schmerzen und schrie. Myrbäck widerstand dem Impuls, sich beide Ohren zuzuhalten. Spätestens jetzt begriff er, dass danebengegangen war, was daneben hatte gehen können.
– Da siehst du mal. Alles im Eimer. Holzapfel schrie in sein Ohr. Er hatte sich den Schweißerhelm vom Kopf gerissen. Sein Kinn war mit Blut gesprenkelt, und riesige Tränen liefen über seine Wangen herab. Er wankte davon.
Die ersten Zuschauer waren eingetroffen. Angelockt von aufsteigenden Rauchwolken hatten sie auf der Autobahnbrücke gehalten und sahen neugierig über die Brüstung auf das Chaos aus Rauch, Feuer und Gewalt herab. Einige von ihnen machten Fotos mit ihren Handys.
Weg von hier, dachte Myrbäck. In den sich lichtenden Schwaden musste er sich zweimal auf der Stelle im Kreis drehen, bevor er Sassie entdeckte.
Sie lag im Gras, nicht einmal weit von ihm, und schien in die Luft zu starren. Er sprang zu ihr und beugte sich über sie. Ihre Augen waren riesig und sahen abwesend aus der Öffnung der Skihaube heraus. Grashalme und Kleeblätter klebten an der bleichen Haut ihres Halses.
– Los, auf, sagte er.
Sie blieb reglos liegen, wie versteinert von einer bösen Fee.
Er warf sein Gewehr beiseite und zog sie an den Schultern hoch. Ihre Jeansjacke war an einem Ärmel zerrissen, ihr Rücken voller Schmutzstreifen, die Hose fleckig. Sie sah erbärmlich aus.
– Komm auf die Beine!, schrie er.
– Milch, sagte sie und rappelte sich auf. Die Milch brennt an.
Zu zweit stolperten sie aus der Unterführung heraus,
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