Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Elektroleitungen, deren Kabelstränge geschmolzen waren, ragten wie Spinnenbeine in die Trümmer hinein. Er sah ein Loch vor sich im Boden. Es hatte unter der Werkstatt also einen Keller gegeben, von dessen Existenz er nichts geahnt hatte. Schritt für Schritt trat er näher heran. Im schwachen Licht von Eds Taschenlampe sah er, dass Holzplanken und Mörtelbrocken in den Kellerraum gestürzt waren, auf einen Rollschrank und Teile einer Karosserie, vielleicht waren es Kotflügel; auch glaubte er, einen verbeulten Rollstuhl zu erkennen, dessen Kunststoffteile geschmolzen und auf dem Zementboden in einer schwärzlichen Pfütze erstarrt waren.
Myrbäck hörte ein Knirschen. Es kam von dort, wo Autos dicht an dicht vor der Lackiererei parkten. Ein Fehlschritt auf Kies, dachte er, so hört es sich an. Minutenlang verharrte er auf der Stelle und lauschte. Langsam richtete er sich auf und stieg aus den Überresten der Werkstatt. Schutt knirschte unter seinen Schuhen. Er hielt sich im Schatten, schlug einen weiten Bogen um die Lackiererei und preschte endlich durch die beleuchtete Hofeinfahrt auf die menschenleere Straße hinaus. Eine ganze Zeit noch glaubte er, Schritte eines Verfolgers hinter sich zu hören.
Erst in Höhe des Zollamts hielt er an. Sein Becken schmerzte, seine Brust brannte. Am Himmel sah er die Lichter eines Flugzeugs, eines von ihnen blinkte. Die Motoren waren zu hören, so leise war die Stadt geworden. Ihm fielen die Schrebergärtner des »Fasanengarten II« ein, deren Häuschen unter der Einflugschneise des Flughafens lagen. Sie würden ihre Schrankenanlagen selber streichen müssen.
S ie atmete tief ein, stieß die Luft wieder aus und stellte sich vor, wie es wäre, in die Mitte seines Bürotisches zu springen, in der Bewegung die Schuhspitze in das Gesicht des Mannes mit dem Tweedanzug zu rammen. Dabei zuzusehen, wie das Blut aus seiner Nase spritzte. Er torkelnd aufstand, sich stöhnend an die Nase griff und den nächsten Tritt mit hochgerissenem Arm abzuwehren versuchte. Vergeblich. Diesmal wurde der Mann am Mund getroffen, und ein ganzer Schwall Blut ging auf seiner schicken Weste nieder.
Manchmal habe ich diese Gewaltträume, sagte sich Sassie Linné, und ich schäme mich nicht für sie. Auch wenn ich mich hüte, anderen davon zu erzählen.
Was für ein Tag! Sie war nach Hause gekommen und hatte im Radio einen der Moderatoren, noch ehe er ein Wort hervorbrachte, an seinem gespielten Lachen erkannt. Sie war in die Bibliothek geflitzt, dann in den Konsummarkt am Mörbyväg, war durch die Gänge gekreist wie ein Hamster, hatte Ewigkeiten vor der Kasse gewartet und sich gefragt, warum man ihr ausgerechnet den Freitag für Einkäufe zugeteilt hatte. Und weil sie nebst vier Einkaufstüten nicht auch noch einen geöffneten Regenschirm tragen konnte, stand sie jetzt mit triefnassem Haar vor dem Briefkasten und las, was die Strafvollzugsbehörde ihr mitteilte: Sie möge für jeden Tag ihrer Haft fünfzig Kronen Miete an den Fonds für Verbrechensopfer zahlen.
Heidi und Malin saßen am Küchentisch und schälten Kartoffeln. Sassie verteilte ihre Einkäufe im Kühlschrank und rechnete. Es war nicht viel, was sie zu Miete und Essen beitragen konnte. Sie stand in Heidis Schuld.
– Ich werde eine Arbeit suchen, sagte sie. Kaum war ihr der Satz herausgerutscht, bereute sie ihre Voreile.
– Wo? Heidi sah sie erstaunt an.
– Ich werde klettern. Sobald ich meine Kette los bin.
– Klettern? Was meinst du damit?, fragte Malin.
– Fassaden werde ich klettern. Man verdient gut dabei.
Während sie den Tisch mit Tellern und Gläsern deckte, erzählte sie. Sie hatte Abwehrnetze gegen Tauben im Kirchturm der St.-Görans-Kirche montiert und vor den Klimaschächten des Park-Inn-Hotels in Solna. Sie hatte Blitzableiter installiert und Werbeplakate am Olympiastadion befestigt. Werbeschilder für Nokia und Ericsson und Volvo verschraubt.
– Wann hast du das gelernt?, wollte Malin wissen.
– Als Kind. Irgendjemand hatte eine Außentreppe an unsere Hauswand gezimmert. Sie war wackelig, fast morsch, und kein Erwachsener traute sich rauf. Sie führte bis aufs Dach. Von dort konnte ich in das Geäst eines Kastanienbaums springen und den Abstieg beginnen. Ich bin tausendmal hoch und wieder runter.
– Und nie abgestürzt?
– Doch, klar. Wenn ich Pech hatte, fiel ich in die Beete mit den Salatköpfen und den Gurken. Ich mag heute noch keine Gurken.
– Und deine Eltern?
– Einmal rief meine Mutter mich zu
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