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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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Hotel auf eine Bahre legten, hing Sassie noch in der Luft. Sie sah zu dabei, wie eine Traube von Ärzten in weißen Kitteln um die Frau herumsprang. Ihr Bein war am Oberschenkel gebrochen, sogar von ganz oben konnte sie sehen, wie es zur Seite wegstand.
    Von der Faszination dieses Schauspiels würde sie niemandem erzählen. Später hatte sie sich Vorwürfe gemacht, weil sie so gebannt verfolgt hatte, was dem Mädchen widerfahren war. So ungeheuer erleichtert darüber, unbehelligt davongekommen zu sein. Als sie die Frau mit dem bandagierten Kopf und dem Gipsbein ein paar Tage später im Krankenhaus besuchte, war ihr der Verdacht gekommen, dass da ein Teilchen in ihr fehlte. Jenes, das sie mitleiden ließ.
    Sie blickte zum Himmel. Es war kalt geworden, der Wind kam jetzt aus Norden und schaffte die Wolken beiseite. Sie verfolgte die Bahnen der Satelliten und fragte sich, welche der Lichter, die dort oben ihre Ellipsen zogen, über sie, den Kettenhäftling, wachten. Ihre himmlischen Wärter, die ein dichtes Funkfeuer auf die Erde herabsandten. Sie fühlte sich winzig.
    Es klingelte.
    Sie riss sich vom Fenster los und ging zur Tür.
    Vor ihr stand ein Fremder. In seiner Hand hielt er den Griff eines angeschlagenen, für seine Größe zu kleinen Rollkoffers. Auf seinem Kopf hing eine vom Regen durchtränkte Wollmütze, die aussah wie ein totes Eichhörnchen. In akzentschwerem Englisch fragte er:
    – Wohnt meine Schwester hier?

D urch die verzierten Milchglasscheiben seiner Wohnung drang Licht, die schwere Tür stand offen, eine Handbreit nur. Myrbäck hörte Stimmen von ganz oben, die Nachbarn mit den drei Kindern, irgendjemand hatte da immer Grund zu schreien.
    Mit kleinen Schritten schob er sich auf dem Treppenabsatz voran, drückte Stück um Stück die Tür auf, sah auch gleich, dass ihr Schloss verrückt in der Halterung hing, und trat in den Flur. Zu hören war hier nur das Lärmen der Bauarbeiter, die sich im Hinterhof in ihre letzten Arbeiten vor Feierabend warfen. Zu sehen aber war es auf einen Blick: Bei den Myrbäck-Wöllners, wohnhaft in der Sternstraße, Hamburg- St. Pauli Nord, war eingebrochen worden.
    Schränke, Müllkörbe, Schmutzwäsche hatte man durchwühlt, die Betten aufgeschlagen; Eds Playmobilkisten waren restlos, Marias Bücherschränke eher planlos geleert, die Schmuckschatulle auf der Konsole ihres Spiegeltischchens zwar geöffnet, aber ohne darüber nachdenken zu müssen, wusste er, dass jene, die hier ihre Finger in sein Privatleben gesteckt hatten, auf Goldkettchen und silberne Ohrhänger nicht aus waren.
    Bewaffnet mit Eds Skateboard schlich er durch die Wohnung. In der Küche vergewisserte er sich, dass in keiner der Porzellanschüsseln ein Finger oder sonst ein makabrer Gruß hinterlegt worden war. Die Türen des Kühlschranks standen offen, vom Boden des Gefrierfachs tropfte Tauwasser auf die Küchenfliesen.
    Er zog einen Stuhl vor das Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße. Er sah Passanten, die durch den Nieselregen trotteten, zwei Bauarbeiter, die Fensterrahmen von einem Laster in den Hinterhof verluden. Niemand, der zu ihm hochsah. Von unterhalb des Fensters strömte trockene Heizungsluft direkt in seine Nase und Augen. Irritiert gab er den Beobachterposten auf, nahm sich das Telefon und wählte eine Nummer, die er seit Jahren nicht gewählt hatte, aber immer noch fehlerfrei erinnerte.
    Eine Frau meldete sich, deren Stimme er nicht kannte. Nein, sagte sie, Heidi käme spät nach Haus.
    Bei ihrem letzten Besuch in Deutschland war Heidi noch mit Olofsson zusammen gewesen, einem Gebrauchtwagenhändler und apathischen Ehemann. In großer Runde hatten sie eine Bootsfahrt durch den Hamburger Hafen gemacht, anschließend hatte er Olofsson ins Eisenbahnmuseum begleitet.
    Myrbäck raffte sich auf. Er räumte und verstaute, rückte zurecht und schlug mit Geschick das Schloss der Haustür in seine Fassung zurück. Er zog zwei Reisekoffer aus der Abstellkammer hervor. Er erkundigte sich beim Zentralen Omnibusbahnhof nach Abfahrzeiten. Er rief Sven Classen an, erklärte, seiner Arbeit als Vermesser bis auf weiteres nicht nachgehen zu können, ein Notfall und familiäre Katastrophen, er müsse verstehen.
    Er verließ die Wohnung, schlug den Weg in Richtung Sternschanze ein, bog aber sogleich in den Torweg des Hauses siebzehn. Von hier aus führte ein unbeleuchteter Bogengang ihn über den kinderleeren Spielplatz direkt zu der Filiale seiner Sparkasse am Schulterblatt. Er räumte sein

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