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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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sich, und wir stiegen aufs Dach. Von dort ließ sie ein rohes Ei fallen: Sieh genau hin!, sagte sie. So ergeht es auch Menschen, wenn sie in der Höhe herumklettern. Mir machte sie damit keine Angst.
    Malin sah sie bewundernd an. Die meisten Leute waren hingerissen, sobald sie erfuhren, dass Sassie in Christiania aufgewachsen war. Sie wollten Geschichten hören über freien Sex und süßes Nichtstun, Hängematten, fette Joints, Polizeiknüppel, jeder hatte so seine Vorstellungen vom abenteuerlichen Leben. Alles Unsinn. Christiania war selbstgebackenes Brot, trüber, selbstgepresster Apfelsaft aus Fallobst. War schlecht schmeckendes, grob gequetschtes Müsli, Flohstiche und so viele streunende Hunde und Katzen, dass kein Kind sich noch ein Haustier wünschte.
    – Schaffst du es, in unsere Wohnung zu klettern?, fragte Malin.
    – An der Außenwand? Sechs Stockwerke hoch? Mit Seil und Haken vielleicht. Aber es wäre riskant. Die Platten sehen nicht so aus, als würden sie mein Gewicht halten.
    Heidi blickte mit zweifelnder Miene auf.
    – Ich, sagte sie, ich könnte dein Gewicht halten. Mit einem Arm. Du musst mehr essen.
    Von Sassies Rundungen und Muskeln war wenig übrig geblieben nach drei Wochen im Bett und auf dem Sofa. Die Hosen schlotterten am Hintern, sogar ihr Busen schien zu schrumpfen. Ihr Körper war zu leicht geworden, um in fünfzig Metern Höhe mit Bohrmaschine oder Bolzenschussgerät zu hantieren. Bestenfalls würde man sie Karabinerhaken verketten lassen. Bohren, dübeln, nieten, da ließe man sie nicht mehr heran. Das war Sache der harten Kerle.
    – Bist du mal abgestürzt? Malin saß vor ihrem Essen, die Fäuste unters Kinn gestemmt, sehr neugierig. Sie war an den Katastrophen interessiert.
    – Als Catwoman. Bei einer Werbeaktion für einen Internet-Service-Provider.
    Sie sollte die Schnelligkeit verkörpern, mit der ihr Auf traggeber seinen Kunden imponieren wollte. Im Stret chanzug hatte sie das Flachdach eines Speichergebäudes im Ham marby-Hafen erklettern und an einem Stahlseil wieder hinunterrutschen müssen – dutzende Male und zur Freude des überwiegend männlichen Publikums, dem zur Feier der Aktion Lakritzwodka gereicht wurde.
    – Bei meiner letzten Abfahrt sackte das Seil durch. Ich verlor den Halt und stürzte ab. Es waren sicher fünfzehn Meter.
    – Ja, und?
    – Ich fiel ins Hafenbecken. Platsch. Glück gehabt.
    Heidi fragte mit vollem Mund: Wann hast du aufgehört?
    – Im Oktober. Mit den Herbststürmen werden die Aufträge knapp. Im Winter braucht nur die Höhenrettung unsere Hilfe. Das sind die Männer von der Feuerwehr, die sich bei Tauwetter mit der Strickleiter vom Dach abseilen und mit dem Hammer die Eiszapfen von den Regenrinnen schlagen.
    Sie stocherte in der leeren Salatschüssel herum. Das Kratzen der Gabel auf Porzellan untermalte die plötzliche Stille am Tisch. Hastig sprach sie weiter: Ich mochte es, von dort oben auf die neugierigen Gesichter der Passanten zu blicken. Mit dem Hammer auf das Eis einzuschlagen, dass es Töne macht wie auf dem Xylofon eines Riesen. Wenn dann die meterlangen Zapfen genau an den richtigen Stellen auf der Straße aufkrachten, war ich stolz. Ich fühlte mich wichtig.
    Später am Abend stand Sassie am offenen Fenster ihres Zimmers und lehnte sich weit hinaus. Mit der einen Hand klammerte sie sich an die Fensterbank, mit der anderen klopfte sie die Häuserwand ab. Nein, hier würde sie sich freiwillig nie hinauswagen. Der Beton der Wand war mit Bitumen behandelt worden, und wie sollte sie sicher sein, ob die Metallverstrebungen, an denen die hinterlüfteten Fassaden hingen, noch stabil waren?
    Es waren nicht der Herbst und seine Stürme gewesen, sondern ein Unfall, der sie das Klettern hatte aufgeben lassen. Sie war mit einer norwegischen Greenpeace-Aktivistin da bei gewesen, eine Banderole vom Dach des Radisson-Hotels auf Södermalm zu entrollen – ein Protest gegen die Pläne von Shell, in der Arktis und vor der Küste Alaskas nach Öl zu bohren. Beim Entrollen fing das Banner den Wind plötzlich ein wie ein Großsegel, seine Seile verdrehten sich mit dem Sicherheitsgeschirr der Frau aus Oslo. Die nächste Sturmbö wirbelte sie wie eine Puppe durch die Luft, dann schlug sie gegen die Fassade.
    Sie selbst war bloß ein paar Mal um ihre eigene Achse gekreiselt, ihr schwindelte, und sie hatte versucht, mit der Frau zu reden, doch die antwortete nicht. Ihr Gesicht war rot von Blut, dann auch ihre Haare.
    Als Sanitäter sie später vor dem

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