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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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an. Verrecke!
    Während sie im Bad verschwand, um ihre Tränen wegzublinzeln, stürmte er mit festen Tritten aus der Wohnung.
    Jetzt ist Schluss! Ich bin mit meiner Geduld am Ende. Ich habe euch lange genug geholfen, ab nächster Woche wird Asyl nicht mehr gewährt. Jan und Knut, macht es euch auf Lökskär bequem! Da wird ein Häuschen frei. Kocht euch das Kartoffelmus, heizt euch die Öfen selbst. Und das läuft hier auch nicht mehr: Sich bei jeder billigen Gelegenheit an Sassie drücken, vor dem Fernseher auf ihrem Bett fläzen, Reden schwingen. Ich verstehe ohnehin nicht, was an diesem Hungerhaken so toll sein soll. Sieht denn niemand, dass dieses Mädchen kaum einmal klar im Kopf ist? Bei all den Pillen.
    Zwischen Nacken und Schulterblättern spürte sie eine fröstelnde Mattigkeit. Sie stand auf, um sich einen Tee zu kochen. Zog ihren Pyjama an und legte sich ins Bett.
    Ihr Bruder. Mit zwölf hatte er sich während einer Klassenreise auf Sylt davongestohlen. Er war aus dem Schullandheim in Richtung des Roten Kliffs vor Wenningstedt davongelaufen, wurde stundenlang zwischen Dünen, Steinzeitgrab und Braderuper Heide gesucht, bis ein Trupp älterer Schüler ihn in einer Senke des zernagten Steilufers fand. Heimweh, hatte er gejammert, als man ihn zuhause ablieferte.
    Heimweh? Sie hatte gelacht. Jan, die Memme. Jan, dessen Stolz es nicht ertrug, dass man ihn »Linse« nannte, weil er seit Kindertagen dicke Brillen trug.
    Heidi und er hatten jahrelang in einem Zimmer gehaust: Etagenbett, Spielzeugkiste, Kleiderschrank, Stühle, Jans Chemiekasten, das war’s dann auch. Ihre Eltern lebten, so hieß das damals, als Hausmeisterehepaar. Mutter putzte, wischte, sprach beruhigend auf wutschnaubende Mieter ein, wenn Spülungen und Heizungen versagten. Vater wechselte die Glühbirnen im Treppenhaus, verwaltete den Fahrradkeller und die Dachböden, handelte mit gebrauchten Fernsehgeräten. Und er soff. Sie wohnten über einer Kneipe.
    Das Temperament des Vaters schlug erst spät bei Jan durch. Die heftigen Gemütsbewegungen, seine Zotenreißerei. Diese zerstörerische Energie. Als Teenager fuhren sie im Herbst häufig mit der S-Bahn nach Bahrenfeld, zogen durch die Schrebergärten am Volkspark und stahlen Äpfel. Einmal sprang ein Mann aus einer Laube, die sie für verlassen gehalten hatten, und versperrte ihnen den Fluchtweg. Er rief ihnen zu: Nehmt euch, was ihr wollt, ich kann so viel Obst alleine nicht essen.
    Was will der denn?, fragte Jan. Ihm war die Lust vergangen. Was nicht verboten war, langweilte ihn. Er wollte davonrennen müssen, mit Herzrasen über Zäune flüchten. Es ging ihm um den Kick. Nicht um die Äpfel.
    Plötzlich stand er vor ihr. Leise hatte er die Tür zu ihrem Zimmer aufgeschoben. Bis in die Bäckerei am Hafen war er gegangen und hatte einen Laib gewürztes Inselbrot für sie gekauft. Er hielt es in Armen, setzte sich auf ihr Bett, nahm seine Brille ab und lächelte sie schief an.
    Er sieht verwundbar aus, dachte sie, mit diesen tief versunkenen Augen. So ist es immer gewesen. Am Ende tut er mir leid.

D ie Aussicht würde ihr fehlen. Sie würde es vermissen, verfolgen zu können, wie das Licht der Sonne der Dämmerung weicht, sich von einer Häuserfassade zur nächsten zurückzieht, sie schließlich dem Dunkel überlässt. Vor ein paar Wochen noch war das sehr schnell geschehen, ruckweise. Jetzt hielten die Tage sich länger. Seit zwanzig Minuten schon saß sie am Fenster, und noch immer besaßen die Dinge Umriss und Farbe, ein abendliches Leuchten.
    Die anderen waren auf das Fest gegangen. Sechzig Jahre Heimdal-Siedlung, das wurde mit Dosenwerfen gefeiert, mit Tombola und Würstchenbuden. Mühe haben die Leute sich gemacht, dachte Sassie. Leuchtketten hingen quer zwischen den Häusern. Eine rollende Disko war angemietet worden, ein Pferdekarussell.
    Hinter den sich langsam drehenden Schimmeln und Lipizzanern konnte sie, wenn sie die Augen zusammenkniff, Holzapfel erkennen. Er stand in seinem neuen grünen Overall vor der Streusandkiste und sprach mit einer Frau. Sie dachte, dass es eine Frau sein müsse, denn sie trug Stiefel und einen langen Rock unter einem Mantel, mehr war von ihr hinter den Wippepferdchen nicht zu sehen. Ist Holzapfel dabei, jemanden aufzureißen? Und welche Sprache setzt er ein dabei?
    Am Dienstag hatte er sie zu ihrer Therapiesitzung bis vor die Drehtüren des Gemeindezentrums begleitet und sich anschließend den Overall gekauft, Ersatz für sein verschlissenes blaues

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