Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
wollen und sich tagelang von Fröschen und Beeren ernähren. Dann fliegt die Küstenwache mit dem Hubschrauber ein und liest sie halbverhungert auf.
Neulich hatte Myrbäck die Insel mit dem Fahrrad ausgekundschaftet. Er war dort drüben an verrammelten Lagerhäusern vorbeigekommen, an Baracken, an kilometerlangen mannshohen Zäunen, die mit Stacheldrahtrollen gesäumt waren, und er hatte von weitem mehrstöckige Silos gesehen, die in die Landschaft nicht passten. Dann hatte er eingesehen, dass es sinnlos war, sich mit dem Rad über verwachsene Traktorwege zu kämpfen. Ihm war keine Menschenseele begegnet. Mit Mühe hatte er den Weg zurück gefunden.
Der Himmel über ihnen klarte auf. Das helle Licht drückte Myrbäck die Lider nieder. Mit einer eigentümlichen Unruhe, die sich von seiner Brust aus in alle Gliedmaßen auszubreiten schien, begriff er, dass sie den Rückweg angetreten hatten, dass dieser Spaziergang bald enden würde. Er stellte sich vor, drei Wünsche frei zu haben, und dass er sie alle drei darauf verwenden würde, statt nach Hause immer noch weiter fort an der Seite Sassies gehen zu können. Er war so begeistert von dieser Idee, dass er nicht mitbekam, worüber sie zu sprechen begonnen hatte.
– Sie nörgelt. Sie ist missgünstig. Sie schmeißt mir die Tür vor der Nase zu.
– Wer jetzt? Von wem sprichst du?
– Von Heidi. Sie sah ihn unwirsch an. Sie gönnt mir nicht, dass ich mit euch auf dieser Insel bin, in diesem schönen Haus. Ich kann sie sogar verstehen. Ich war eine zahlende Untermieterin, jetzt bin ich nur noch ein ungebetener Gast, den man nur deshalb nicht fortschickt, weil er in Not ist.
– Lass sie eingeschnappt sein. Sie wird sich wieder beruhigen.
– Wie war das mit dir und Heidi? Ihr wart doch ein Paar.
– Das ist ewig her. Heidi ist ganz und gar anders als ich.
Der Weg führte sie bergab und an einer kurvigen Passage entlang. Während er seine Schritte seitlich setzte, um nicht auf den immer steileren Buckeln des Hangs abzurutschen, verschwand sie plötzlich aus seinem Blickfeld. Irritiert sah er sich um, erschrocken.
Komm, sagte sie. Drei Meter unter ihm stand sie auf einem schmalen Pfad.
– Wie hast du das geschafft, fragte er. Bist du aus Gummi?
– Ich bin gesprungen, was sonst? Sie lachte.
– Wie eine Ziege.
– Ja, das kann ich.
Wie kann man aus dieser Höhe hinunterhüpfen und sich die Knöchel nicht verstauchen?, fragte er sich. Auf dem Hintern rutschte er umständlich über zwei Absätze zu ihr hinab.
– Erzähl schon, sagte sie mit fordernder Stimme, als er neben ihr landete.
– Zum ersten Mal haben wir uns vor dem Eisentor eines Hamburger Gefängnisses gesehen. Es war der Tag von Jans Entlassung aus der Untersuchungshaft. Sie war mit dem Fahrrad gekommen und in einer Kurve in Schotter und Scherben gestürzt. Es sah schlimm aus. Ihr Ellenbogen blutete, beide Hände, und ich gab ihr mein Taschentuch.
– Liebe auf den ersten Blick?
– Ich erinnere mich nicht. Aber zwei Jahre waren wir ein Paar.
– Und dann?
– Dann bin ich einfach weg. Sie war damals meinetwegen nach Schweden gekommen und überzeugt davon, ich würde zu ihr zurückkehren. Über dieser Hoffnung ist sie in Nynäshamn geblieben. Das hat sie mir bis heute nicht verziehen, glaube ich. Es ist ungerecht.
– Wieso?
– Wer ist denn mit zwanzig für sein Liebesleben verantwortlich?
Er wunderte sich, wie mühelos die Vergangenheit wiederzuerzählen war, wie gradlinig und bar jeder Wirrung. Tränenreiche Nächte, schlimmste Beleidigungen, rasende Eifersucht, im Rückblick wurden sie zu netten, handlichen Geschichten.
Als das Haus in Sicht kam, sagte sie:
– Heidi sollte besser nicht erfahren, was wir vorhaben.
Myrbäck war ihrer Meinung. Wenn Heidi von ihren Plänen erführe, würde sie alles platzen lassen. Aus Sorge um ihren Bruder.
Auf der Treppe zur Veranda kratzte Myrbäck mit einem Stock Lehmbrocken unter seiner Sohle weg. Als er sich aufrichtete, stieß er mit der Stirn gegen die Innenseite von Sassies Oberschenkel. Sie tat, als wäre nichts weiter geschehen.
In der Diele sagte Sassie, dass sie friere. Wie um ihm zu beweisen, dass sie die Wahrheit sagte, legte sie kurz ihre kalten Hände in die seinen. Dann sprang sie über die Treppe ins obere Stockwerk.
Myrbäck betrat die Küche am Ende des Flurs. Jan stand vor der elektrischen Doppelkochplatte und dem Kühlschrank, der ihm als Ablagefläche für Dosenravioli und Gemüsereste diente.
– Sieht ja aus wie in der
Weitere Kostenlose Bücher