Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
ersten Mal. Diesmal wusste sie, dass es aus dem Garten vor ihrem Fenster kam. Es klang wie der Schrei eines Tieres in Todesangst. Vielleicht eine Feldmaus, in den Fängen eines Marders. Ein hohles Gefühl sackte in ihre Magengrube.
Einige Sterne waren am Himmel aufgetaucht, und sie glaubte erkennen zu können, dass eine der beiden Türen zum Kaninchenstall offen stand. Sicher aber war sie nicht. Es half nicht, die Augen zusammenzukneifen. Was soll schon sein, sagte sie sich. Die Tiere sind überreizt, das ist die Blaue Wiener-Rasse, zwei Weibchen, hatte Malin ihr einmal erklärt. Ihr Fell fühlte sich besonders samtig, plüschig an, aber dafür waren sie auch schrecklich nervös.
Von weit her hörte sie einen Hund bellen.
Sie sah, dass Myrbäck seine Augen geöffnet hatte und sie anblickte. Es war ein Blick, der aus Träumen kam. Von seinen Augen sah sie nur zwei helle Punkte.
– Magst du meine Zähne?, fragte sie.
– Was?, sagte er. Er klang erstaunt. Warum fragst du das? Ja, ich mag deine Zähne.
– Sie sind schief. Ich habe extreme Angst vorm Zahnarzt. Meine Tante hat mich zum Kieferorthopäden geschleppt, als ich elf war. Sie wollten operieren, aber ich habe mich dagegen gewehrt. Später hatte ich diesen Arzt, der mir sagte: Ich könnte alle Zähne abschleifen, und wir setzen Kronen drauf. Er fing an, und ich weiß noch, wie mein Kopf dröhnte. Ich haute ab. Ich mag meine schiefen Zähne. Sie stören mich nicht.
– Du würdest seltsam aussehen ohne sie.
Er wünscht sich, dass ich mich wieder zu ihm lege, dachte sie. Sie war nicht sicher, ob sie es tun sollte. Unlust schwappte träge in ihrem Inneren und fesselte sie in den Sessel. Sie zog die Beine hoch. Auf ihrer Zunge lag der süßliche Geschmack des Benzodiazepins.
– Warum trägst du deine Perücke?, fragte er.
Sie hatte vergessen, dass sie hier als Blondine saß. Sie nahm die Perücke ab und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.
– Wen hast du in deinem Leben geliebt?, fragte sie.
– In meinem Leben?
– Ja.
– Ich weiß nicht. Wann weiß man schon sicher, ob man liebt?
– Ich habe es immer gewusst, sagte sie, obwohl sie sich da nicht so sicher war.
– Und wen hast du geliebt?
– Das werde ich dir nicht sagen. Erst, wenn du mir von dir erzählst.
Sie schwiegen eine Weile. Als sie sicher war, dass er nicht mehr antworten würde, fragte sie mit fordernder Stimme:
– Jetzt erzähl mir, warum du noch hier bist. Ja. Warum seid ihr noch immer hier? Wer verfolgt dich eigentlich?
Myrbäck setzte sich auf und sah sie verwundert an. Du musst verdammt müde sein, sagte er.
– Du irrst dich. Ich bin hellwach und will wissen, warum ihr nicht nach Hause zurückkehrt. Du zu deinem Kind. Holzapfel zu seiner Kellnerin, von deren fabelhaften Titten er allen erzählt, wenn er nur genug gesoffen hat.
– Willst du hören, dass ich sage: deinetwegen? Ich bin deinetwegen hier?
– Ja.
– Dann bitte: Ich bin hier, um bei dir zu sein. Außerdem werde ich verfolgt, Holzapfel ebenso.
– Das bildet ihr euch doch ein. In einer Tour macht ihr euch wichtiger, als ihr seid.
– Nein. Wir werden verfolgt. Wirklich. Ich weiß nur nicht, von wem.
– Ihr beide macht aus euren Leben geringschätzige Geschichten. Sie warf mit der Perücke nach ihm und traf seine Brust. Er regte sich nicht.
Sie saßen schweigend einander gegenüber. Das Flackern der Kerze wurde schwächer.
Sie war nicht auf der Suche nach Männern an ihrer Seite, sie wollte keinen Lebensgefährten. Sie zog es vor, allein zu sein. Sie mochte es, mit einem Buch auf dem Bett zu liegen oder Filme im Fernsehen zu sehen, ohne dabei Kommentare anhören zu müssen. Sie war nicht darauf eingerichtet, mit männlichen Egos umzugehen, ihrem Geprahle und ihrer leicht entflammten Begeisterung für alles und jedes. Sie war froh, dass sie die Männer in ihrem Leben alle wieder losgeworden war. Oder nicht? Brauchte sie einen fürs Bett? Manchmal. Aber gut möglich, dass sie sich das auch nur einbildete.
– Hast du den Feldstecher gesehen?, fragte sie, als das Kerzenlicht erlosch.
– Er liegt im Regal, antwortete Myrbäck schläfrig.
Sie stand auf, hielt sich den Apparat vor die Augen und blickte in den nächtlichen Garten. Sie glaubte zu spüren, dass Myrbäck ihren Hintern anstarrte, nackt wie er war.
Es dauerte eine Zeit, bis sie durch Drehen des Okulars die passende Schärfe eingestellt hatte. Sie folgte der Wäscheleine, die vom Verandageländer hinüber zu einer kleinen Tanne gespannt war,
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