Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Inez sich erinnern konnte, noch nie geschimpft. Das tat Nanna, wenn Inez nicht artig war. Aber ihre Mutter hatte ganz genaue Vorstellungen von allem, und Inez durfte ihr auf keinen Fall widersprechen.
Am wichtigsten war, dass man alles richtig machte. Ihre Mutter sagte immer: »Wenn man schon etwas tut, sollte man es auch ordentlich machen.« Nie durfte Inez sich durchmogeln. Im Schreibheft gehörten die Buchstaben auf die Linien, und die Zahlen im Rechenheft genau in die Kästchen. Die Abdrücke falscher Zahlen waren verboten, selbst wenn sie gründlich ausradiert waren. Wenn sie sich unsicher war, musste sie die Hausaufgaben zuerst ins Unreine schreiben.
Es war auch wichtig, dass man keine Unordnung machte, denn wenn es zu Hause unordentlich war, passierte womöglich etwas Schreckliches. Was, wusste Inez nicht genau, aber ihr Zimmer musste immer perfekt aufgeräumt sein. Man konnte nie wissen, wann Laura einen Blick hineinwarf, und falls dann nicht alles tipptopp war, machte sie ein enttäuschtes Gesicht und bestand auf einer Aussprache. Inez hasste solche Gespräche. Sie wollte ihre Mutter nicht enttäuschen, aber meistens ging es genau darum: Inez hatte ihre Mutter enttäuscht.
Auch in Nannas Zimmer und der Küche durfte sie keine Unordnung machen. Die übrigen Räume – das Schlafzimmer ihrer Mutter, das Wohnzimmer, das Gästezimmer und den Salon – durfte sie nicht betreten. Ihre Mutter sagte, es könne sonst etwas kaputtgehen. Kinder hätten dort nichts zu suchen. Sie gehorchte, weil das am einfachsten war. Sie mochte keinen Streit, und sie mochte die Gespräche mit ihrer Mutter nicht. Wenn sie tat, was ihre Mutter sagte, blieb ihr beides erspart.
In der Schule blieb sie für sich und tat immer, was man ihr sagte. Es war deutlich zu erkennen, dass der Lehrerin das gefiel. Erwachsene schienen es zu mögen, wenn man ihnen gehorchte.
Die anderen Kinder beachteten sie kaum. Sie schien es nicht einmal wert zu sein, dass man sie ärgerte. Einige wenige Male hatten sie Bemerkungen über ihre Großmutter gemacht. Inez wunderte sich darüber, denn sie hatte ja keine Großmutter. Als sie zu Hause nachfragte, hatte ihre Mutter sie anstelle einer Antwort zu einem dieser Gespräche gezwungen. Inez hatte sogar Nanna gefragt, aber die hatte überraschend die Nase gerümpft und gesagt, darüber wolle sie nicht reden. Inez fragte nicht weiter. Das Thema war nicht wichtig genug, um noch so ein Gespräch zu riskieren, und außerdem wusste ihre Mutter ja alles am besten.
A ls sie Valö erreichten, sprang Ebba von Bord und bedankte sich überschwänglich fürs Mitnehmen. Zum ersten Mal, seit sie hierhergekommen waren, ging sie voller Erwartung und Freude zum Haus hinauf. Sie wollte Mårten so viel erzählen.
Beim Näherkommen wurde ihr schlagartig bewusst, wie schön das Haus war. Natürlich war noch viel zu tun – trotz der Plackerei hatten sie gerade erst den Anfang geschafft –, aber das Potential war erkennbar. Wie ein weißes Schmuckstück lag das Gebäude mitten in der unberührten Natur, das Wasser konnte man zwar nicht sehen, doch man spürte es.
Sie und Mårten würden Zeit brauchen, um zueinander zurückzufinden, und ihr Leben musste anders werden. Nicht unbedingt schlechter. Vielleicht konnten sie ihre Beziehung intensivieren. Bis jetzt hatte sie kaum gewagt, daran zu denken, aber möglicherweise war in ihrem Leben trotzdem Platz für ein Kind. Nicht, solange alles noch neu und fragil war und sie mit dem Haus und sich selbst viel zu tun hatten, aber später einmal würde Vincent vielleicht ein Geschwisterchen bekommen. So sah sie es. Ein Geschwisterchen für ihren kleinen Engel.
Ihre Eltern hatte sie beruhigen können. Sie hatte sie um Verzeihung gebeten, weil sie ihnen nichts von den jüngsten Ereignissen erzählt hatte, und ihnen ausgeredet, sich überstürzt auf den Weg nach Fjällbacka zu machen. Am Abend hatte sie erneut bei ihnen angerufen, um ihnen alles zu erzählen, was sie über ihre Familie erfahren hatte. Sie wusste, dass die beiden sich für sie freuten und nachvollziehen konnten, wie viel ihr das alles bedeutete. Allerdings waren sie dagegen, dass sie auf die Insel zurückkehrte, bevor der Fall aufgeklärt war. Ebba hatte zu einer Notlüge gegriffen und ihnen gesagt, sie würde noch eine Nacht bei Erica und Patrik schlafen. Damit gaben sie sich zufrieden.
Auch ihr machte es Angst, dass ihnen jemand etwas antun wollte, aber Mårten hatte sich entschieden zu bleiben, und sie hatte nun
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