Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
betrachtete Josef ein Foto von ihnen, das in einem schweren Silberrahmen auf seinem Schreibtisch stand. Dahinter hatte er Bilder von Rebecka und den Kindern aufgestellt. Er war stets der Mittelpunkt im Leben seiner Eltern gewesen, und sie würden immer der Mittelpunkt seines Lebens sein. Seine Familie musste das akzeptieren.
»Das Essen ist bald fertig.« Leise betrat Rebecka das Arbeitszimmer.
»Ich habe keinen Hunger. Esst ohne mich.« Er blickte nicht einmal auf. Er hatte viel wichtigere Dinge zu tun, als zu essen.
»Kannst du dich nicht zu uns setzen, wenn die Kinder schon mal zu Besuch kommen?«
Josef sah sie verwundert an. Es war nicht ihre Art, so hartnäckig zu sein. Er begann sich zu ärgern, doch dann holte er tief Luft. Sie hatte recht. Die Kinder waren nur noch selten zu Hause.
»Ich komme.« Seufzend klappte er sein Notizbuch zu. Es war voller Ideen, wie er das Projekt gestalten wollte, und für den Fall, dass ihm etwas einfiel, trug er es ständig bei sich.
»Danke.« Rebecka drehte sich um und verließ den Raum.
Josef folgte ihr. Im Esszimmer war bereits der Tisch gedeckt. Er stellte fest, dass sie sich für das gute Geschirr entschieden hatte. Sie hatte einen Hang zur Oberflächlichkeit, aber obwohl es ihm eigentlich nicht gefiel, wenn sie den Kindern zuliebe solchen Aufwand betrieb, ließ er die Sache auf sich beruhen.
»Hallo, Papa.« Judith gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Daniel stand auf und umarmte ihn. Für einen Augenblick war sein Herz von Stolz erfüllt. Er wünschte, sein Vater hätte das Aufwachsen seiner Enkelkinder noch erlebt.
»Setzen wir uns, bevor das Essen kalt wird.« Er nahm am Kopfende Platz.
Rebecka hatte Judiths Lieblingsgericht zubereitet, Brathähnchen mit Kartoffelbrei. Plötzlich merkte Josef, wie hungrig er war. Er hatte das Mittagessen vollkommen vergessen. Nach dem Segen verteilte Rebecka das Essen, und alle begannen schweigend zu kauen. Als der schlimmste Hunger gestillt war, legte Josef sein Besteck hin.
»Läuft das Studium gut?«
Daniel nickte. »Im Sommersemester habe ich alle Prüfungen mit Bestnote abgeschlossen. Jetzt brauche ich nur noch einen guten Praktikumsplatz für den Herbst.«
»Und mein Ferienjob macht mir einen Riesenspaß«, sagte Judith. Ihre Augen leuchteten. »Du müsstest mal sehen, wie tapfer diese Kinder sind, Mama. Sie müssen große Operationen und lange Strahlenbehandlungen über sich ergehen lassen, aber sie geben nicht auf. Unglaublich.«
Josef holte tief Luft. Die Erfolge seiner Kinder konnten nichts gegen die Unruhe ausrichten, die er ständig verspürte. Er wusste, dass sie immer ein klein wenig mehr leisten, dass sie es noch weiter bringen konnten. Sie mussten sich an so vielem messen lassen und für so vieles Rache üben, und er sorgte dafür, dass sie immer ihr Bestes gaben.
»Und was ist mit der Forschung? Bleibt dir dafür überhaupt Zeit?« Er sah Judith bohrend an und bemerkte, wie die Begeisterung in ihren Augen erlosch. Sie wünschte sich Bestätigung und ein paar anerkennende Worte von ihm, aber wenn er den Kindern das Gefühl gab, sie seien bereits gut genug, würden sie sich nicht noch mehr anstrengen. Das durfte auf keinen Fall geschehen.
Er wartete Judiths Antwort gar nicht erst ab, sondern wandte sich an Daniel. »Ich habe letzte Woche mit deinem Dozenten gesprochen, und er sagte mir, vom letzten Kurs hättest du zwei Tage versäumt. Woran lag das?«
Aus dem Augenwinkel registrierte Josef Rebeckas enttäuschten Blick, aber er konnte nichts dagegen machen. Je mehr sie die Kinder verhätschelte, desto größer war seine Verantwortung, sie auf den rechten Weg zu führen.
»Ich hatte einen Magen-Darm-Infekt«, sagte Daniel. »Es wäre bestimmt nicht gut angekommen, wenn ich mitten in der Vorlesung in eine Tüte gekotzt hätte.«
»Machst du dich über mich lustig?«
»Nein, ich habe ehrlich deine Frage beantwortet.«
»Du weißt, dass ich dahinterkomme, wenn du lügst«, sagte Josef. Sein Besteck lag noch immer auf dem Teller. Er hatte den Appetit verloren. Es war ihm ein Gräuel, dass er die Kinder nicht mehr so unter Kontrolle hatte wie früher, als sie noch zu Hause wohnten.
»Ich hatte einen Magen-Darm-Infekt«, wiederholte Daniel und senkte den Blick. Auch ihm schien der Appetit vergangen zu sein.
Josef stand hastig auf. »Ich muss arbeiten.«
Während er sich in sein Arbeitszimmer flüchtete, dachte er, sie waren wahrscheinlich froh, ihn los zu sein. Durch die Tür konnte er ihre Stimmen und das
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