Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
ungerecht das Leben war, und seinen Recherchen zufolge war John auf der Sonnenseite geboren.
Die Aufnahme lief.
»Worauf ist es Ihrer Ansicht nach zurückzuführen, dass Sie mittlerweile im Reichstag sitzen?«
Es war immer gut, vorsichtig anzufangen. Er wusste, dass es nicht oft die Gelegenheit gab, mit John allein zu sprechen. In Stockholm wären mit Sicherheit ein Pressesprecher und weitere Personen anwesend gewesen. Nun konnten er und John unter vier Augen miteinander reden, und der Parteichef war hoffentlich entspannter, wenn er im Urlaub war und sich in seinem eigenen Revier befand.
»Ich glaube, das schwedische Volk ist reifer geworden. Wir nehmen unsere Umgebung und deren Einfluss auf uns bewusster wahr. Lange Zeit waren wir viel zu gutgläubig, aber nun sind wir endlich aufgewacht. Schwedens Freunde stellen in diesem Prozess eine Stimme der Vernunft dar.« John lächelte.
Kjell konnte verstehen, warum sich Menschen von ihm angezogen fühlten. Seine Ausstrahlung und seine Selbstsicherheit bewirkten, dass man an das glauben wollte, was er sagte. Kjell war jedoch zu nüchtern, um diesem Charme zu erliegen, und außerdem missfiel ihm, wie John das Wort »wir« verwandte, wenn er von sich und dem schwedischen Volk sprach. John Holm repräsentierte die Schweden wirklich nicht. Damit hätte man ihnen unrecht getan.
Er stellte noch einige harmlose Fragen: was es für ein Gefühl gewesen sei, plötzlich im Reichstag zu sitzen, wie man auf sie reagiert habe, was John von der politischen Arbeit in Stockholm halte. Stefan umkreiste sie währenddessen mit seiner Kamera, und Kjell sah die Bilder bereits vor sich. John Holm auf seinem eigenen Bootssteg, im Hintergrund das glitzernde Wasser. Das war etwas ganz anderes als die steifen Bilder mit Anzug und Krawatte, die man normalerweise von ihm in der Zeitung sah.
Kjell warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig Minuten der vereinbarten Gesprächszeit waren schon vergangen, und die Stimmung war freundlich, wenn nicht sogar herzlich. Zeit, die richtigen Fragen zu stellen. Seit der Termin vor einigen Wochen bestätigt worden war, hatte er unzählige Artikel über John Holm gelesen und sich jede Menge Ausschnitte aus Fernsehdebatten angesehen. Viele Journalisten machten ihre Arbeit nicht gut, sie kratzten nur an der Oberfläche. Stellten sie überraschenderweise doch eine kluge Frage, ließen sie immer die Gelegenheit zum Nachhaken verstreichen und gaben sich stattdessen mit Johns selbstbewussten Antworten zufrieden, die oft auf vollkommen falschen Statistiken oder reinen Lügen beruhten. Manchmal schämte er sich, ein Journalist zu sein, aber im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hatte er seine Hausaufgaben gemacht.
»Ihr Haushaltsplan beruht auf der Annahme, dass unsere Gesellschaft viel Geld sparen könnte, wenn man die Einwanderung stoppte, und zwar achtundsiebzig Millionen Kronen. Wie kommen Sie auf diese Summe?«
John erstarrte. Eine Furche zwischen seinen Augenbrauen verriet eine leichte Irritation, wich aber schnell einem verbindlichen Lächeln.
»Unsere Kalkulation ist fundiert.«
»Sind Sie sicher? Es deutet einiges darauf hin, dass Ihre Berechnungen falsch sind. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Sie behaupten, nur zehn Prozent der Einwanderer fänden in Schweden Arbeit.«
»Das ist korrekt. Unter den Personen, die wir hier aufnehmen, herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, und die verursacht enorme Kosten.«
»Nach der Statistik, die mir zur Verfügung steht, haben aber fünfundsechzig Prozent aller Einwanderer in Schweden einen Job.«
John schwieg. Kjell sah ihm an, dass er fieberhaft nachdachte.
»Mir hat man gesagt, es seien zehn Prozent.«
»Wissen Sie, wie diese Zahl zustande gekommen ist?«
»Nein.«
Allmählich genoss Kjell die Situation. »Ihre Berechnungen gehen ferner davon aus, dass unsere Gesellschaft an den staatlichen Transferleistungen sparen könnte, wenn die Einwanderung gestoppt würde. Ein Studie aus dem Zeitraum von 1980 bis 1990 zeigt jedoch, die von Einwanderern gezahlten Steuern übertreffen die Höhe der staatlichen Transferleistungen bei weitem.«
»Das klingt nicht sehr wahrscheinlich.« John grinste schief. »Auf solche Mogelstudien fällt das schwedische Volk nicht mehr herein. Es ist allgemein bekannt, dass die Einwanderer die staatliche Unterstützung ausnutzen.«
»Ich habe Ihnen die Studie kopiert. Sie können sie gern behalten, um sich etwas genauer damit zu beschäftigen.« Kjell legte einen Stapel Papier vor John auf
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