Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Er ging wieder in den Flur.
Keine Antwort.
»Ich sehe mal oben nach«, rief er, aber Gösta nickte nur. Er war vollauf damit beschäftigt, das kleine Mädchen zu beruhigen.
Er hatte noch nie ein Kind auf dem Arm gehalten und wusste nicht genau, was er tun sollte, damit es aufhörte zu weinen. Unbeholfen wiegte er sie hin und her, strich ihr über den Rücken und summte irgendeine undefinierbare Melodie. Zu seinem Erstaunen funktionierte es. Aus dem lauten Gebrüll wurden kleine Schluchzer. Als sie ihm den Kopf auf die Schulter legte, spürte er, wie sich ihr Brustkorb rhythmisch hob und senkte. Summend wiegte Gösta sie weiter, während ihn Gefühle bewegten, die er nicht in Worte fassen konnte.
Henry kam zurück ins Esszimmer. »Oben ist auch keiner.«
»Wo sind die hin? Wie kann man so ein kleines Kind allein lassen? Es hätte alles Mögliche passieren können.«
»Stimmt. Und wer hat die Polizei gerufen?« Henry nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf.
»Könnte es sein, dass sie hier auf der Insel einen Spaziergang machen?« Skeptisch betrachtete Gösta den Tisch mit dem halb verzehrten Osteressen.
»Während des Mittagessens? Das wäre äußerst merkwürdig.«
»Da hast du recht.« Henry setzte die Mütze wieder auf. »Was macht denn ein niedliches kleines Mädchen ganz allein hier draußen?«, säuselte er mit gespitzten Lippen und ging auf sie zu.
Sie fing sofort wieder an zu weinen und klammerte sich derart fest an Göstas Hals, dass er kaum noch Luft bekam.
»Lass sie.« Er wich zurück.
Ein warmes Gefühl von Zufriedenheit durchfuhr ihn, und er fragte sich, ob es auch so gewesen wäre, wenn sein und Maj-Britts Sohn am Leben geblieben wäre. Schnell schob er den Gedanken weg. Er hatte beschlossen, nicht darüber nachzudenken, was hätte sein können.
»Lag das Boot unten?«, fragte er, als das Weinen wieder nachgelassen hatte.
Henry runzelte die Stirn. »Da war ein Boot am Steg, aber haben die nicht zwei? Ich dachte, sie hätten Sven-Ivar im Herbst das Motorboot aus Holz abgekauft, und eben war nur ein Kunststoffboot am Anleger vertäut. Die werden doch wohl keine Bootstour unternommen und das Mädchen unbeaufsichtigt hiergelassen haben. So blöd können doch nicht einmal Stadtmenschen sein.«
»Inez stammt von hier«, korrigierte ihn Gösta abwesend. »Ihre Familie lebt schon seit Generationen in Fjällbacka.«
Henry seufzte. »Seltsam ist es auf jeden Fall. Wir nehmen das Mädchen mit ans Festland und müssen abwarten, ob sich jemand meldet.« Er drehte sich um und wollte gehen.
»Es ist für sechs Personen gedeckt«, sagte Gösta.
»Wahrscheinlich ist nur die Familie da, weil Osterferien sind.«
»Können wir das wirklich einfach stehen lassen?« Die Situation war, gelinde gesagt, verwunderlich, und Gösta machte es nervös, dass er nicht auf Erfahrungen zurückgreifen konnte. Er überlegte eine Weile. »Gut, wir nehmen die Kleine mit. Sollte sich niemand melden, kommen wir wieder. Wenn die Leute dann nicht zurück sind, müssen wir davon ausgehen, dass etwas passiert ist. Und dann ist das hier ein Tatort.«
Immer noch unsicher, ob sie sich richtig verhielten, gingen sie hinaus und machten die Haustür hinter sich zu. Sie liefen zum Steg hinunter. Als sie nur noch ein kurzes Stück davon entfernt waren, kam auf dem Wasser ein Boot näher.
»Sieh mal, da ist Sven-Ivars altes Boot«, rief Henry.
»Da sitzen mehrere Leute drin. Vielleicht ist das der Rest der Familie.«
»In dem Fall sage ich denen gehörig meine Meinung. Die Kleine einfach allein zu lassen! Am liebsten würde ich ihnen was hinter die Löffel geben.«
Henry stiefelte zum Steg hinunter. Gösta folgte im Laufschritt, musste jedoch aufpassen, dass er mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm nicht stolperte. Ein Boot legte an, aus dem ein Junge um die fünfzehn stieg. Er hatte pechschwarzes Haar und sah sie zornig an.
»Was macht ihr mit Ebba?«, zischte er.
»Und wer bist du?«, fragte Henry, nachdem der Junge sich drohend vor ihm aufgebaut hatte.
Als Gösta zum Steg kam, kletterten noch vier Jungen aus dem Boot.
»Wo sind Inez und Rune?«, fragte der schwarzhaarige Junge. Die anderen standen stumm hinter ihm und warteten ab. Es war nicht zu übersehen, wer der Anführer war.
»Das fragen wir uns auch«, sagte Gösta. »Die Polizei hat einen Anruf erhalten, hier sei etwas passiert. Als wir ankamen, fanden wir das Mädchen ganz allein im Haus vor.«
Der Junge starrte ihn verdutzt an. »War Ebba allein?«
Ebba
Weitere Kostenlose Bücher