Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
miteinander zu reden.
Erica zögerte einen Augenblick. Vor lauter Tatendrang und Neugier hatte sie sich überhaupt nicht überlegt, wie sie begründen sollte, dass sie hier einfach auftauchte und störte. Die kleine Unsicherheit legte sich jedoch nach wenigen Sekunden. Neugierige Fragen zu stellen und in den Geheimnissen und tragischen Lebensgeschichten der Menschen herumzustochern gehörte schließlich zu ihrem Job. Sie hatte ihr Bedenken schon vor langem fallen lassen und wusste, dass viele Betroffene ihre Bücher später mochten. Außerdem war es immer ein bisschen leichter, wenn das Ereignis, so wie in diesem Fall, weit zurücklag. Die Wunden waren oft verheilt, und die Tragödien gehörten der Vergangenheit an.
»Hallo«, rief sie munter. Das Paar wandte ihr den Blick zu.
»Ich kenne Sie«, lächelte die Frau. »Sie sind Erica Falck. Ich habe alle Ihre Bücher gelesen und finde sie wundervoll.« Plötzlich verstummte sie jäh, als wäre sie über ihre eigene Aufdringlichkeit erschrocken.
»Sie müssen Ebba sein.« Erica gab ihr die Hand. Ebbas Finger fühlten sich zerbrechlich an, aber die dicken Schwielen zeugten von harter Arbeit. »Vielen Dank für das Lob.«
Immer noch ein wenig schüchtern stellte Ebba ihren Mann vor, den Erica ebenfalls begrüßte.
»Was für ein Timing.« Ebba setzte sich und schien darauf zu warten, dass Erica sich ebenfalls setzte.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich gehe davon aus, dass Sie über das Verschwinden meiner Familie schreiben wollen, und da kommen Sie genau im richtigen Moment.«
»Na ja«, sagte Erica. »Ich habe gehört, Sie haben im Haus etwas gefunden.«
»Wir haben es beim Herausreißen des Holzfußbodens im Wohnzimmer entdeckt«, sagte Mårten. »Wir wussten nicht genau, was es war, hatten aber den Eindruck, dass es sich um Blut handelt. Die Polizei war hier, hat sich alles angesehen und beschlossen, die Sache näher zu untersuchen. Deswegen der ganze Trubel.«
Langsam begriff Erica, warum Patrik gestern so merkwürdig reagiert hatte, als sie ihn fragte, ob etwas passiert sei. Sie fragte sich, was er von dem Ganzen hielt. Nahm er an, dass Ebbas Familie im Esszimmer umgebracht und die Leichen weggeschafft worden waren? Sie wollte schon fragen, ob sie außer dem Blut noch etwas anderes gefunden hatten, beherrschte sich aber.
»Das muss ein unangenehmes Gefühl für Sie sein. Ich will nicht bestreiten, dass mich der Vorfall immer interessiert hat, aber Sie, Ebba, sind doch ganz persönlich betroffen.«
Ebba schüttelte den Kopf. »Ich war so klein, dass ich gar keine Erinnerungen an meine Familie habe. Um jemanden, an den ich mich nicht erinnere, kann ich auch nicht trauern. Es ist nicht so wie …« Sie hielt inne und blickte zur Seite.
»Ich glaube, einer der Polizisten war Patrik Hedström, mein Mann. Er war ja bereits am Samstag hier. Da muss etwas Unheimliches passiert sein.«
»So könnte man es nennen. Unheimlich war es auf jeden Fall. Ich habe keine Ahnung, warum uns jemand so etwas antun wollte.« Mårten breitete ratlos die Arme aus.
»Patrik glaubt, dass es etwas mit dem Vorfall von 1974 zu tun haben könnte«, rutschte Erica heraus. Sie verfluchte sich selbst. Patrik wäre wahnsinnig wütend, wenn sie Dinge preisgab, die möglicherweise Einfluss auf die Ermittlungen hatten.
»Was für ein Zusammenhang sollte denn da bestehen? Das ist doch so lange her.« Ebba sah zum Haus. Von hier aus konnten sie nicht sehen, was im Esszimmer vor sich ging, aber sie hörten das Splittern des Holzes, als der Boden aufgestemmt wurde.
»Wenn Sie einverstanden sind, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen zum Verschwinden Ihrer Familie stellen«, sagte Erica.
Ebba nickte. »Klar. Ich habe Ihrem Mann schon gesagt, dass ich Ihnen wahrscheinlich kaum weiterhelfen kann, aber fragen Sie ruhig.«
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich unser Gespräch aufnehme?« Erica zog ein Tonbandgerät aus der Tasche.
Mårten warf Ebba einen fragenden Blick zu, doch die zuckte mit den Schultern. »Das ist schon okay.«
Als das Band lief, kribbelte es vor Aufregung in Ericas Bauch. Obwohl es ihr oft durch den Kopf gegangen war, hatte sie sich nie dazu aufraffen können, Ebba in Göteborg zu besuchen. Nun war sie hier, und Erica würde vielleicht etwas erfahren, was ihre Recherchen voranbrachte.
»Haben Sie irgendwelche Dinge von Ihren Eltern aufbewahrt? Konnten Sie etwas von hier mitnehmen?«
»Nein, nichts. Meine Adoptiveltern haben mir erzählt, dass ich nur einen kleinen Koffer
Weitere Kostenlose Bücher