Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
behandelte sie Dagmar genauso verächtlich wie alle anderen. Dagmar hasste sie alle. Sollten sie doch in der Hölle schmoren, die Schandmäuler und die Hurenböcke, die sich von Dagmars schlechtem Ruf nicht davon abhalten ließen, abends zu ihr zu kommen und ihn ihr für ein paar lumpige Kröten reinzustecken. Offenbar war sie gut genug dafür, um sich grunzend auf sie zu wälzen.
Dagmar schlug die Bettdecke zur Seite und ging in die kleine Küche. Alle freien Flächen waren von schmutzigem Geschirr bedeckt, und von den eingetrockneten Essensresten stieg ein etwas muffiger Geruch auf. Sie öffnete den Vorratsschrank. Bis auf eine Flasche verdünnten Ethanols, die ihr der Apotheker als Bezahlung gegeben hatte, war der Schrank vollkommen leer. Sie ging mit der Flasche zurück ins Bett. Das Mädchen schrie weiter, und der Nachbar wummerte noch einmal gegen die Wand, aber Dagmar kümmerte das nicht. Sie zog den Korken heraus, wischte mit dem Ärmel ihres Nachthemds einige Brotkrumen vom Flaschenhals und setzte ihn an die Lippen. Wenn sie genügend getrunken hatte, verstummten die Geräusche.
E rwartungsvoll öffnete Josef die Tür zu Sebastians Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lagen die Zeichnungen des Grundstücks, auf dem in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft das Museum entstehen würde.
»Glückwunsch!« Sebastian kam ihm entgegen. »Die Gemeinde hat beschlossen, das Projekt zu unterstützen.« Er schlug Josef fest auf den Rücken.
»Gut«, sagte Josef. Eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Wieso sollte die Gemeinde ein so phantastisches Angebot ablehnen? »Wann können wir anfangen?«
»Immer mit der Ruhe. Ich glaube, dir ist nicht ganz klar, wie viel Arbeit uns bevorsteht. Wir müssen die Friedenssymbole herstellen, das Gebäude planen und berechnen und vor allem jede Menge Kohle eintreiben.«
»Wieso? Die Witwe Grünwald hat uns das Grundstück doch überlassen, und wir haben auch noch andere Schenkungen bekommen. Als Bauherr wirst du doch wohl selbst entscheiden können, wann wir anfangen.«
Sebastian lachte. »Nur weil meine Firma den Bau übernimmt, gibt es trotzdem nichts geschenkt. Ich muss Gehälter bezahlen und Material einkaufen. Diese Sache kostet eine Stange Geld.« Er klopfte auf die Zeichnungen. »Ich muss Subunternehmer beauftragen, und die arbeiten nicht für Gotteslohn. So wie ich.«
Josef setzte sich seufzend auf einen Stuhl. Was Sebastians Beweggründe anging, war er skeptisch.
»Wir fangen mit dem Granit an.« Sebastian legte schwungvoll die Füße auf den Tisch. »Ich habe hier ein paar tolle Entwürfe für die Friedenssymbole. Dann brauchen wir nur noch attraktives Werbematerial und eine gute Verpackung, und dann können wir den ganzen Mist verkaufen.« Als er Josefs Miene sah, griente er.
»Lach nur. Dir geht es nur ums Geld. Begreifst du denn nicht, welchen symbolischen Wert die Sache hat? Dieser Granit sollte Teil des Dritten Reiches werden, doch stattdessen ist er nun Zeugnis für die Niederlagen der Nazis und dafür, dass die guten Kräfte am Ende gesiegt haben. Wir haben die Möglichkeit, etwas daraus zu machen und am Ende das hier zu erschaffen.« Er hieb so fest auf den Tisch, dass der zitterte.
Sebastians Grinsen wurde immer breiter. Er breitete die Arme aus.
»Niemand zwingt dich, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich kann unsere Vereinbarung jetzt zerreißen, und dann darfst du mit deinem Projekt gern woanders hingehen.«
Der Gedanke war verlockend. Für einen Augenblick überlegte Josef, genau das zu tun. Dann sackte er in sich zusammen. Er musste diese Sache zu Ende bringen. Bis jetzt hatte er seine Lebenszeit nur verschwendet. Er hatte nichts vorzuweisen. Hatte nichts zustande gebracht, was das Andenken seiner Vorfahren ehrte.
»Du weißt ganz genau, dass du der Einzige bist, an den ich mich wenden kann«, sagte er schließlich.
»Außerdem halten wir zwei zusammen.« Sebastian nahm die Füße vom Schreibtisch und beugte sich vor. »Wir kennen uns schon lange. Wir könnten Brüder sein, und du kennst mich doch. Einen Bruder würde ich niemals im Stich lassen.«
»Stimmt, wir halten zusammen«, sagte Josef. Er sah Sebastian forschend an. »Hast du schon gehört, dass Leon wieder da ist?«
»Das ist mir zu Ohren gekommen. Erstaunlich, dass er hier noch einmal auftaucht. Mit Ia. Das hätte ich nie gedacht.«
»Sie haben sich anscheinend das Haus oberhalb vom Brandpark gekauft.«
»Warum nicht, genügend Kapital haben sie ja. Vielleicht hat Leon ja auch
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