Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
ihm in den Sinn gekommen, mit etwas Schlechterem vorliebzunehmen. An dem Tag, an dem er sich nur noch Jim Beam leisten könnte, würde er Vaters alte Luger aus dem Schrank holen und sich eine Kugel in den Kopf schießen.
Am meisten belastete ihn, dass er seinen Vater enttäuscht hatte. Als Ältester war er immer bevorzugt worden. Daraus war in der Familie nie ein Hehl gemacht worden. Kühl und sachlich hatte Vater seinen beiden jüngeren Kindern erklärt, Percy sei etwas Besonderes. Insgeheim freute der sich, wenn die Geschwister vom Vater in ihre Schranken gewiesen wurden. Doch vor der Enttäuschung über ihn selbst, die er manchmal in Vaters Blick sah, verschloss er lieber die Augen. Er wusste, dass Vater ihn für besonders ängstlich, verweichlicht und verwöhnt hielt, und vielleicht stimmte es auch, dass Mutter ihn übermäßig behütet hatte. Sie hatte ihm oft erzählt, dass er beinahe gestorben wäre. Er war zwei Monate zu früh geboren, klein wie ein Vogeljunges. Die Ärzte hatten seinen Eltern geraten, nicht mit seinem Überleben zu rechnen, aber er war zum ersten und letzten Mal in seinem Leben stark gewesen und hatte wider Erwarten überlebt, wenn auch bei schlechter Gesundheit.
Er sah hinaus auf den Karlaplan. Die Wohnung hatte einen hübschen Erker, von dem man einen guten Blick auf den Platz mit der Fontäne hatte. Mit dem Whiskyglas in der Hand betrachtete er das Gewimmel. Im Winter war hier überhaupt nichts los, aber nun waren alle Bänke besetzt und dazwischen spielten Kinder, aßen Eis und genossen die Sonne.
Im Treppenhaus waren Schritte zu hören. Er spitzte die Ohren. Kam Pyttan nach Hause? Sie war sicher nur kurz shoppen gegangen. Hoffentlich hatte die Bank noch nicht die Kreditkarte gesperrt. Er spürte die Demütigung im ganzen Körper. Wie war diese Gesellschaft eigentlich aufgebaut? Da verlangte die Steuerbehörde einfach ein Vermögen von ihm. Der reinste Kommunismus. Percy klammerte sich ans Glas. Mary und Charles hätten ihre helle Freude, wenn sie vom Ausmaß seiner finanziellen Probleme wüssten. Sie verbreiteten immer noch die Lügengeschichte, er hätte sie aus ihrem Elternhaus vertrieben und bestohlen.
Plötzlich kam ihm Valö in den Sinn. Wenn er doch niemals dort gelandet wäre. Aber die Stimmung auf dem Internat Lundsberg war unerträglich geworden, als herauskam, dass auch er untätig zugesehen hatte, wie einige der berüchtigtsten Schüler einem Jungen, auf dem ohnehin ständig herumgehackt wurde, kurz vor der Abschlussfeier in der Aula Abführmittel verabreicht hatten. Der weiße Sommeranzug hatte sich bis zum Rücken hinauf braun gefärbt.
Nach diesem Vorfall hatte der Rektor seinen Vater zu einem Gespräch gebeten. Um einen Skandal zu vermeiden, erteilte ihm der Schulleiter keinen Verweis, sondern empfahl dem Vater lediglich, eine andere Schule für seinen Sohn zu suchen. Vater war außer sich vor Empörung. Percy hatte schließlich nur zugesehen, war das verboten? Am Ende gab sein Vater sich dennoch geschlagen und kam nach vorsichtigen Erkundigungen in den richtigen Kreisen zu dem Schluss, dass Rune Elvanders Internat auf Valö die beste Möglichkeit war. Am liebsten hätte er Percy zwar auf eine Schule im Ausland geschickt, aber da hatte sich ausnahmsweise seine Mutter quergestellt. Runes Schule sollte es sein, und die hatte ihm eine ganze Reihe von dunklen Erinnerungen eingebracht, die er lieber verdrängte.
Percy trank einen Schluck. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass die Scham leichter zu ertragen war, wenn man sie mit einem guten Whisky verdünnte. Er sah sich im Zimmer um. Pyttan hatte bei der Einrichtung freie Hand gehabt. Dieser Purismus und das ganze Weiß waren vielleicht nicht sein Geschmack, aber solange sie im Schloss nichts anfasste, durfte sie sich in der Wohnung austoben. Das Schloss hingegen musste genauso bleiben wie zu Vaters, Großvaters und Urgroßvaters Zeiten. Das war Ehrensache.
Eine leichte Unruhe veranlasste ihn, ins Schlafzimmer zu gehen. Pyttan müsste inzwischen zu Hause sein. Sie waren heute Abend bei guten Freunden zu einer Cocktailparty eingeladen, und seine Frau begann immer schon am Nachmittag, sich zurechtzumachen.
Obwohl alles so aussah wie immer, ließ ihn das Gefühl nicht los. Er stellte das Glas auf Pyttans Nachttisch und ging zögernd auf ihren Teil des Kleiderschranks zu. Als er die Tür öffnete, bewegten sich einige Bügel im Windzug. Der Schrank war leer.
Es war kaum zu glauben, dass hier vor kurzem Schüsse gefallen
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