Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Knäckebrot gegessen und dabei absichtlich gekrümelt. Laura hasste Krümel auf dem Fußboden. Sie würde nicht atmen können, bevor sie nicht gefegt hatte. Dagmar wischte noch einige Krümel von der Tischplatte, damit das Mädchen etwas zu tun hatte, wenn es aus der Schule kam.
Rastlos trommelte Dagmar mit den Fingerkuppen auf die geblümte Tischdecke. Ihre innere Unruhe zwang sie ständig, auf irgendeine Weise Dampf abzulassen, und still sitzen konnte sie schon lange nicht mehr. Zwölf Jahre waren vergangen, seit Hermann sie verlassen hatte. Trotzdem spürte sie noch immer seine Hände auf ihrem Körper, der nicht mehr im Geringsten an das Mädchen von damals erinnerte.
Die Wut, die sie damals in dem sterilen Krankenzimmer auf Hermann gehabt hatte, war wie weggeblasen. Sie liebte ihn, und er liebte sie. Nichts war so gekommen, wie sie es sich erhofft hatte, aber zumindest wusste sie, wer schuld daran war. In jedem wachen Moment und sogar in ihren Träumen sah sie Carin Görings überhebliches und höhnisches Gesicht vor sich. Sie hatte es offensichtlich genossen, Dagmar und Laura zu demütigen. Dagmar klopfte fester auf den Tisch. Die Gedanken an Carin nahmen sie vollkommen in Anspruch. Nur ihnen und dem Alkohol war es zu verdanken, dass sie jeden Tag auf die Beine kam.
Sie griff nach der Zeitung auf dem Tisch. Da sie es sich nicht leisten konnte, Zeitungen zu kaufen, stahl sie alte Ausgaben aus den Stapeln, die die Händler zurückgehen ließen. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jede Seite genau zu studieren, weil sie hin und wieder Artikel über Hermann entdeckte. Er war nach Deutschland zurückgekehrt, und auch der Name Hitler, den er im Krankenhaus gebrüllt hatte, war gefallen. Voller Aufregung hatte sie jedes Wort über Hermann verschlungen. Der Mann, über den die Zeitungen berichteten, war ihr Hermann, und nicht der fette Schreihals in dem Krankenbett. Nun trug er wieder eine Uniform, und auch wenn er nicht mehr ganz so schlank und elegant wie damals aussah, war er ein mächtiger Mann.
Als sie die Zeitung aufschlug, zitterten ihre Hände noch. Es schien immer länger zu dauern, bis das morgendliche Schlückchen Wirkung zeigte. Vielleicht sollte sie sich gleich noch eins genehmigen. Dagmar stand auf und schenkte sich ein ordentliches Glas Schnaps ein. Sie trank es in einem Zug leer und spürte, wie sich die wohltuende Wärme in ihrem Körper ausbreitete und das Zittern nachließ. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch und blätterte die Zeitung durch.
Sie war schon fast auf der letzten Seite, als sie den Artikel entdeckte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, und sie konnte sich nur mit Mühe auf die Überschrift konzentrieren: »Görings Ehefrau beigesetzt. Kranz von Hitler«.
Dagmar betrachtete die beiden Fotos. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Carin Göring war tot. Es war wirklich wahr. Sie lachte laut auf. Nun stand Hermann nichts mehr im Weg. Nun würde er endlich zu ihr zurückkommen. Sie trappelte aufgeregt mit den Füßen.
D iesmal war er allein zum Steinbruch gefahren. Josef musste ehrlicherweise zugeben, dass er die Gesellschaft anderer Menschen nicht besonders schätzte. Er suchte etwas, das er nur finden würde, wenn er den Blick nach innen richtete. Niemand sonst konnte es ihm geben. Manchmal wünschte er, anders zu sein, oder besser gesagt, so wie alle anderen. Jemand, der sich zugehörig fühlte, der Teil von etwas war, aber er ließ nicht einmal seine Familie an sich heran. Der Knoten in seiner Brust war zu fest. Er kam sich vor wie ein Kind, das sich die Nase am Schaufenster des Spielwarengeschäfts plattdrückt und all die wunderbaren Dinge sieht, aber nicht die Tür aufzumachen wagt. Irgendetwas hielt ihn davon ab, einzutreten und die Hand auszustrecken.
Er setzte sich auf einen Granitblock und dachte an Mutter und Vater. Sie waren nun seit zehn Jahren tot, aber er fühlte sich noch immer verloren ohne sie. Außerdem schämte er sich, weil er sein Geheimnis vor ihnen verborgen hatte. Sein Vater hatte stets betont, wie wichtig Vertrauen sei und dass man immer ehrlich sein und die Wahrheit sagen sollte. Er hatte gewusst, dass Josef etwas vor ihm geheim hielt, und auch keinen Hehl daraus gemacht. Doch wie sollte er seinem Vater davon erzählen? Manche Geheimnisse waren einfach zu groß, und seine Eltern hatten so viele Opfer für ihn gebracht.
Im Krieg hatten sie alles verloren: Familie, Freunde, Besitz, Sicherheit, ihr Heimatland. Alles
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