Die Engelsmuehle
Wohnzimmer standen alle Schränke und Kommoden offen. Aus sämtlichen Schubladen waren die Inhalte auf den Fußboden geworfen worden. Auf einem Haufen lagen Socken, Unterhosen, Prospekte, Folder, aufgerissene Briefe, Röntgenbilder, Medikamentenschachteln, Taschentücher, Teller, Gläser, Videokassetten, Zeitungen und zerknüllte Zigarettenpackungen. Memphis Light. Alle Büroordner aus einem Regal waren durchwühlt, jedes einzelne Blatt aus der Folie gezogen worden. Der Mörder konnte nur nach einem bestimmten Dokument gesucht haben. Aber nach dem Anblick des Wohnzimmers zu urteilen, hatte er die Papiere nicht gefunden, denn sogar der Teppich war umgeschlagen worden - und wenn Hogart ein Zimmer nach Papieren durchsuchte, würde er zuletzt unter dem Teppich nachsehen. Wer versteckte schon Papiere unter dem Wohnzimmerläufer?
Andererseits waren auch sämtliche Bücher aus den Vitrinen gezogen und durchblättert worden. Aufgeklappte Bildbände und zerfledderte Taschenbücher lagen in einer Ecke des Raums. Von Hausbegehungen bei Nachlässen wusste Hogart, dass ältere Menschen ihr Bargeld gern in Büchern versteckten. Doch Eddie hatte erwähnt, dass Faltl kein Geld besaß. Womöglich hatte der Mörder weder Geld noch Dokumente, sondern einfach nur Fotos gesucht.
Die Schubladen in der Küche waren ebenfalls aufgezogen, die Kunststoffschalen mit dem Besteck ausgeleert, Teller, Gläser, Schüsseln und Tabletts achtlos auf den Boden geworfen worden. Hogart wunderte sich, dass bei dem Lärm, den der Mörder verursacht haben musste, keiner der Nachbarn die Polizei verständigt hatte. Vielleicht lebte aber auch nur eine schwerhörige, alte Dame neben Faltl, die ihr Fernsehgerät auf voller Lautstärke laufen ließ. Hogart stieg über den Scherbenhaufen und betrachtete den Blumentopf auf dem Fenstersims. Die Pflanze ließ die Blätter hängen, die Erde war entsprechend ausgetrocknet. Wozu hatte der Mörder die Schale aus dem Keramikübertopf gehoben? Niemand versteckte Fotos in einer Blumenschale. Sogar die trockene Erde war bis zu den Wurzeln durchwühlt worden. Möglicherweise hatte der Mörder nach etwas Kleinerem gesucht, einer Münze, einem Mikrofilm oder einem Schlüssel für einen Safe, eine Dokumentenmappe, einen Aktenkoffer, ein Schließfach oder eine andere Wohnung.
Gedankenverloren blickte Hogart noch einmal zum Blumentopf. Hinter der schmierigen Fensterscheibe lag die gegenüberliegende graue Häuserfront. Dazwischen lag die Straßenschlucht. Ein Ausblick, der wunderbar depressiv machte. Hogart starrte aus dem fünften Stockwerk in den Abgrund. Soeben fuhren zwei Streifenwagen die Straße hinunter, gefolgt von zwei zivilen Fahrzeugen und einem weinroten Opel. Gareks Wagen! Die Autos hielten in der Nähe der Mülltonnen, wo Hogarts Skoda parkte.
Er fuhr herum. Ihm blieb nicht einmal eine Minute. Ein Schlüssel, ein Schlüssel, dachte er fieberhaft.
Er betrachtete die offenen Schränke. Ein Deckel lag neben der Zuckerdose, der Zucker war ausgestreut. Obwohl Hogart wusste, dass er nichts finden würde, durchwühlte er die Schale mit dem Finger. Nichts. Die Kaffeedose, der Salz- und Pfefferstreuer waren ebenso geöffnet und ausgeleert worden. Auch darin befand sich nichts, was der Mörder übersehen haben könnte. Alter Mann, wo hast du einen Schlüssel in deiner Wohnung versteckt?
Hogart stieg noch einmal über den Scherbenhaufen, um zu der Tür am anderen Ende der Küche zu gelangen. Dahinter befand sich eine winzige Abstellkammer für Lebensmittel. Hogart knipste das Licht an. Auf dem Boden standen einige Kisten mit leeren Weinflaschen, daneben lehnten ein Wischmopp, ein Staubsauger, Küchenrollen, Eimer und Putzmittel. In den Regalen stapelten sich Öl- und Essigflaschen, Rosinen-, Nüsse- und Nudelpackungen, Senftuben, Gewürzgläser, Toastbrote, Marmeladengläser, Mehl-, Zucker- und Semmelbröselpackungen … allesamt originalverschlossen.
Aus den verschiedenen Packungen stach jedoch eine einzige wegen ihrer verblassten Farbe heraus: ein alter Staubzuckerkarton. Diese Zuckersorte gab es zwar noch, doch das Verpackungsdesign war veraltet. Mittlerweile verwendete Wiener Zucker ein anderes Logo. Vorsichtig zog Hogart die Schachtel heraus. Der Staubzucker war bereits seit Dezember 2004 abgelaufen. Das Datum erinnerte ihn an den tödlichen Autounfall von Ernest Bohmann und seiner Frau. Vielleicht nur ein dummer Zufall - vielleicht auch nicht. An der Lasche sah Hogart, dass der Karton vorsichtig geöffnet und
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