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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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saß eine Dame nicht immer auf den besten Plätzen direkt an der Logenbrüstung? Würde nicht gerade Florence sich an einem solchen Abend stolz an der Seite ihres Mannes zeigen, um dem bösen Getuschel über ihre Ehe endlich ein Ende zu bereiten?
    Es war nicht Florence. Der unsichtbare Dritte trat einen Schritt vor, Rosina sah weiße Strümpfe, eine seidig glänzende dunkle Kniehose – mehr nicht.
    «Einen Schritt noch», murmelte sie, «nur einen kleinen Schritt.»
    Ihr Wunsch blieb unerfüllt. Die Kniehose samt den hellen Stümpfen verschwand wieder im Dunkel der Loge.
    «Wir müssen das Stück unbedingt in unser Repertoire aufnehmen», hörte sie Helena voller Eifer sagen. «Du wärst eine ergreifende Ophelia, Rosina. Jean ist Hamlet und ich spiele die Königin, das ist selbstverständlich. Ob Titus als dieser brudermörderische König, dieser Claudius, gut wäre? Auf alle Fälle ist der Geist eine wunderbare Rolle für Rudolf, er spricht doch ohnehin so wenig. Haben wir noch eine Orange?»
    Während sie die Schale von der überreifen Frucht löste, fuhr sie fort: «Wir müssen natürlich ein paar der kleineren Rollen streichen, schade, aber es sind einfach zuviele für unsere Gesellschaft. Und den Prinzen sollten wir auch ein bisschen polieren. Die Leute sehen ja gerne Blut und Schlägereien, aber für einen dänischen Prinzen ist mir der Kerl doch zu blindwütig. Und die liebe Ophelia sollte   …»
    Sie verstummte, denn Rosina wandte sich einem jungen Mann zu, der schüchtern ihren Arm berührt hatte.
    Bendix Hebbel besuchte an diesem Abend schon zum zweiten Mal das Drury Lane Theatre. Anders als Helena gefiel ihm der zornig rächende Prinz ausnehmend gut. Er zwängte sich in eine gerade frei werdende Lücke an der Brüstung, beugte sich behutsam vor und sah auf die Menge hinunter.
    «Ihr mögt es für töricht halten», sagte er, «aber ich mag die Pausen fast so gern wie die Stücke. Sie bieten auch Theater, findet Ihr nicht? Fast wie ein Zwischenspiel.»
    «Unbedingt», sagte Rosina. «Allerdings habe ich auf dieser Seite des Vorhanges wenig Erfahrung. Ich stehe ja meistens auf der Bühne. Oder dahinter. Der Zuschauerraum ist mir beinahe so ungewohnt wie Euch der Aufenthalt hinter dem Vorhang.»
    «Könntet Ihr uns die bedeutenden Leute zeigen, Mr.   Hebbel?», bat Helena. «Ihr kennt Euch gewiss schon gut in London aus.»
    Hebbel grinste breit und verlor endlich alle Schüchternheit. «Die gleiche Frage habe ich dem zweiten Gesellen von MacGavin gestellt, als er mich zu meinem ersten Besuch hierher mitnahm. Das will ich gerne versuchen, Madame Becker. Viele kenne ich zwar nicht, aber doch einige. Dort in der königlichen Loge zum Beispiel seht Ihr   …»
    «Die Majestäten», rief Helena, «natürlich. Die haben wir schon entdeckt.»
    «Ja. Aber das Paar, das gerade eingetreten ist, dem der König nun selbst den Wein einschenkt, das sind Miss Kauffmann, sie ist selbst schön wie ein Bild, findet Ihr nicht?, und Mr.   Reynolds. Der andere, der jüngere Herr, ist wohl Mr.   Füssli – da bin ich aber nicht ganz sicher   –, er ist wie Mr.   Reynolds Maler und sein Protegé.»
    «Angelika Kauffmann?», frage Rosina. «Die Malerin aus der Schweiz?»
    Paul Tulipan, der Hamburger Porträtist mit den betörend türkisfarbenen Augen und dem wankelmütigen Herzen, der ihr im vergangenen Jahr die Freuden abendlicher Bootsfahrten auf der Alster (und auch einige andere) gezeigt hatte, hatte voller Begeisterung von der Frau gesprochen, die trotz ihres hinderlichen Geschlechts eine gefeierte Künstlerin war und sogar zu den ersten Mitgliedern der Königlichen Kunstakademie zählte. Selbst den famosen Skandal wegen ihres kurzzeitigen Ehemanns, der sich dummerweise als Bigamist und Hochstapler entpuppte, hatte man ihr schnell verziehen.
    «Ja, sie ist unglaublich berühmt», bestätigte Hebbel, «zumindest in London. Es heißt, Mr.   Reynolds habe ihr die Ehe angetragen, aber sie hat abgelehnt. Mr.   Garrick soll auch in sie verliebt gewesen sein, als er sie vor einigen Jahren in Rom kennen lernte, sogar heftig. Obwohl seine Gattin, Violetta, von feinem Charakter und immer noch eine Schönheit ist. Jedenfalls soll das Porträt, das Miss Kauffmann damals von ihm gemalt hat, das beste sein, das es von ihm gibt.
    Und auf der linken Seite», sein ausgestreckter Arm wies nun in diese Richtung, «in der unteren Loge, seht Ihr den beleibten Herrn mit der dicken Perücke und den roten Wangen? Das ist Dr.   Samuel

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