Die englische Episode
ihnen hinuntergehen?»
«Auf gar keinen Fall.» Helena umklammerte die Brüstung und verteidigte mit breiten Ellenbogen ihren Platz gegen einen vierschrötigen Mann mit den Ausdünstungen einer Ginbude, der entschlossen versuchte, seinekaum manierlicher duftende Begleiterin aus der zweiten Reihe nach vorn zu schieben. «Im Parkett sehen wir nichts als Köpfe und Schultern, glaub mir, und von hier blicken wir direkt auf die Bühne.» Sie schob ihren Fuß einige Zoll zurück und trat fest auf, hörte mit Genugtuung einen Schmerzenslaut, und das Drängen in ihrem Rücken schwand. «Ich bin schrecklich aufgeregt, Rosina. Wenn er nur nicht stolpert. Oder seinen Text vergisst.»
«Es sind doch nur vier Sätze», beruhigte Rosina sie. «Und wenn er tatsächlich stolpert, wird er es als genialen Einfall zu verkaufen wissen. Sonst wäre er nicht unser Prinzipal. Außerdem, als Geist eines ermordeten Königs darf er schon mal straucheln. Erst recht im Schlafgemach seiner untreuen Witwe.»
«Wüsste ich es nicht besser», rief Helena gegen den Lärm, «würde ich dich für eine Ignorantin halten. Glaubst du, es dauert noch lange?»
Rosina schüttelte den Kopf. «Mr. Lancing hat gesagt, der Vorhang hebt sich immer pünktlich, egal, ob König und Königin erschienen sind oder nicht. Aber sieh mal», sie zeigte auf die königliche Loge, «wenn man vom Teufel spricht.»
Ein Raunen ging durch die Menge, und als König Georg und Königin Sophie-Charlotte mit ihrem ältesten Sohn, einem Kind von noch nicht ganz acht Jahren, an die Brüstung ihrer Loge traten, wurde Beifall laut. Doch nur kurz und wenig leidenschaftlich, wie immer, wenn irgendein neuer Erlass, eine verweigerte Begnadigung oder neue Steuer das Volk empörte. Ebenso wenig gefiel heute der junge Prinz, der sich den für den Beifall dankenden Verbeugungen der Majestäten nur allzu flüchtig anschloss.
«Tiefer», brüllte eine schrille Stimme. «Tiefer, tiefer», johlten andere ihr nach.
Helena hielt den Atem an, ihre Augen suchten schon nach der Garde, doch die Königin drückte nur mit einem Lächeln den Kopf ihre Sohnes tiefer hinunter, winkte ihrem nun endlich jubelnden Volk zu, und das Schauspiel auf der Bühne konnte beginnen:
Hamlet, Prinz von Dänemark.
Der dunkelrote Vorhang hob sich mit feierlicher Langsamkeit, und das lärmende Konzert der Stimmen aus dem Auditorium erstarb abrupt. Die Bühne, die nun die Terrasse des Schlosses von Helsingør zeigte, war kleiner als die des neuen Theaters am Hamburger Gänsemarkt, sie war wohl hoch, doch ein rechter Guckkasten, kaum geräumiger als in den Bretterbuden der großen Wandertheater.
Auf ein Vorspiel wurde heute verzichtet. Nicht wegen der Dauer des zu erwartenden fünfaktigen Dramas, sondern wegen des Nachspiels, das von allen aufs Höchste geliebte lustig-pompöse
Entertainment
mit Ballett, Gesang und Pantomimen, das an diesem Abend als besonders aufwendig und umfänglich angekündigt war. Aus gutem Grund, aber das wusste im Publikum zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Auch ohne Vorspiel würde der Abend wie gewöhnlich vier, wenn nicht gar fünf Stunden dauern.
Jeans erster Auftritt fand gleich in der ersten Szene statt und geriet großartig. Vielleicht ging er ein wenig näher an die Rampe, als es Mr. Shakespeare und auch Mr. Garrick vorgesehen hatten, vielleicht auch ein wenig zu zögerlich von der Bühne, doch er gab einen wahrhaft königlichen Geist und trug die Rüstung mit angemessener Würde.
«Wer bist du, der sich dieser Nachtzeit anmaßt»,
fragte Horatio bebend,
«und dieser edlen kriegrischen Gestalt, worin die Hoheit des begrabnen Dänemark weiland einherging? Ich beschwöre dich beim Himmel, sprich!»
Nur Helena erkannte, wie groß die Versuchung für Jean war, den schweigenden Geist des ermordeten Königs eine von Mr. Shakespeare nicht vorgesehene Brandrede halten zu lassen, sondern still, wie es sich für diese Spukgestalt gehörte, wieder abzugehen. Nicht mal ein winziges schauriges Buhu, das er auf seiner eigenen Bühne keinesfalls ausgelassen hätte, kam über seine blass geschminkten Lippen. Aber auf seiner Bühne hätte er sich auch niemals mit einer so winzigen Rolle beschieden. Auf diesen Brettern jedoch, die Mr. Garrick sozusagen zur Weihestätte der Theaterkunst gemacht hatte, glich ihm selbst ein solcher Auftritt einem Lorbeerkranz. Oder wenigstens dem Hauptgewinn in der Lotterie.
Jean hatte nie geglaubt, dass er eine solch miese Rolle einmal als Höhepunkt
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